MASTER
NEGA TIVE
NO. 91-80191
MICROFILMED 1992
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES/NEW YORK
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AU THOR:
PICHLER, HANS
TITLE:
ÜBER DIE ARTEN DES
SEINS....
PLACE:
WIEN
DA TE :
1906
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES
PRESERVATION DEPARTMENT
BIDLIOGRAPHICMTrRnFQRMTARnFT
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Master Negative #
91^0191 -2
111
Z8
v.l
Pichler, Hans, 1882-1958.
Über die arten des seine.. . Wien. 1906
69 p. 22oin.
Thesis, aeidelberg.
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ClR DIE ifflS DES
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Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung der Doktorwürde
einer
Hohen Philosophischen Fal^ultät
der
Ptuprecht-Karls-Universität zu Heidelberg
am 19. Februar 1906
vorgelegt von
HANS PICHLER
WIEN l-yn LEIPZIG
WILHELM BEAUMÜLLER
k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler
1906
A^eboren am 26. Februar 1882 zu Leipzig,
^^ verbrachte ich die Kindheit in meinem
Vaterland Osterreich, vollendete die Gym-
nasialstudien am Gymnasium zu Karlsruhe
im Jahre 1901 und studierte Philosophie an
den Universitäten Straßburg, Berlin und
Heidelberg.
Meinen verehrten Lehrern, vor allen
Herrn Geh. Rat Prof. Dr. Windelband, weiß
ich mich zu großem Danke verpflichtet.
k
Das ontologische Problem hat Aristoteles in
die abendländische Begriffsentwicklung eingeführt.
War vor ihm das philosophische Interesse vorzugs-
weise der Fragestellung zugekehrt: was ist das
Seiende, so untersuchte er: was ist das Sein, und
beschied sich bei der Ansicht, daß die Seinsbegriffe
disparat und nur 6[i(i)vi)[Aa xax' ^vaXoycav sind.*) Eine
rein analytische Begriffsbestimmung des Seins kann
nicht weit führen, die Richtung gebenden Gesichts-
punkte entnahm Aristoteles seiner Metaphysik, die
als transzendente Logik ihn zur Unterscheidung
der Y£vr^ xoö Svio? nach den Kategorien führte. Ihr
fehlt nichts als die Bestimmung des übergeordneten
Gattungsbegriffes Sein, der freihch nur auf dem
erkenntniskritischen Boden der transzendentalen
Logik gefunden werden konnte.
Unter dem Einfluß des Aristoteles geriet in
der Scholastik die Ontologie in jene eigentümlich
unfruchtbare Verbindung logischer Begriffsanalysen
mit dogmatischen Voraussetzungen. Die Folgezeit
brachte zum metaphysischen Dogmatismus noch
den metaphysischen Skeptizismus zur Ausbildung.
Diese beiden, die sich solange eine außerordentliche
Wichtigkeit im menschlichen Weltbegriffe angemaßt
hatten, machte Kant in der Kritik der reinen Vernunft
zunichte durch die Einsicht, daß alles erkennbare
Sein kategorial vergegenständlichte Anschauung ist.
*) cf. Brentano, „Von der mannigfachen Bedeutung des
Seienden bei Aristoteles", S. 85 ff.
— 6 —
Das Kriterium für die Erkenntnis sind nicht
Gegenstände ^an sich«, sondern die Anschauung,
alle Vergegenständlichung ist die Tat des kate-
gorialen, konstruktiven Denkens. Ein Denken, das
den Bereich der Erfahrung verläßt, d. h. Gegen-
stände erkennen will, denen keine Anschauung
korrespondiert, irrt von Phantom zu Phantom: Kant
hält sich »an der einzigen billigen Forderung, daß man
sich ... darüber rechtfertige, wie man es anfangen
wolle, seine Erkenntnis ... bis dahin zu erstrecken,
wo keine mögliche Erfahrung und mithin kein Mittel
hinreicht, irgendeinem von uns selbst ausgedachten
Begriffe seine objektive Realität zu versichern. Wie
der Verstand auch zu diesem Begriffe gelangt sein
mag, so kann doch das Dasein des Gegenstandes
desselben nicht analytisch in demselben gefunden
werden, weil eben darin die Erkenntnis der Existenz
des Objektes besteht, daß dieser außer den Ge-
danken an sich selbst gesetzt ist. «^*) »In dem bloßen
Begriffe eines Dinges kann gar kein Charakter
seines Daseins angetroffen werden. Denn, ob der-
selbe gleich noch so vollständig sei, daß nicht das
Mindeste ermangle ... so hat Dasein mit allem diesem
doch gar nichts zu tun, sondern nur mit der Frage:
ob ein solches Ding uns gegeben sei, so daß die
Wahrnehmung desselben vor dem Begriffe allenfalls
vorhergehen könne . . . die Wahrnehmung, die den
Stoff zum Begriff hergibt, ist der einzige Charakter
der Wirklichkeit. <**)
So ist das Problem des Seins auf den er-
kenntniskritischen Boden verpflanzt. Kant konnte
in der Kritik d. r. V. alle unsere Erkenntnisansprüche
auf das Feld der möglichen Erfahrung einschränken,
weil er in der transzendentalen Logik die nach
*) Kritik d. r. V. B., S. 667.
**} Kritik d. r. V. B., S. 273.
sicheren Grundsätzen vollzogene Grenzbestimmung
unseres Erkennens aufgewiesen hat, »welche ihr
nihil ulterius mit größester Zuverlässigkeit an die
herkulischen Säulen heftet, die die Natur selbst
aufgestellet hat, um die Fahrt unserer Vernunft
nur soweit, als die stetig fortlaufenden Küsten der
Erfahrung reichen, fortzusetzen«.*)
Die fortlaufenden Küsten der Erfahrung sind
die Reiche des Seins, die durch ihren Gegensatz
zum bloßen Gedachtsein und eine notwendige Be-
ziehung auf die Anschauung freilich noch nicht
genügend bestimmt sind. Der Existenzialbegriff er-
hält seinen inhaltlichen Wert erst in den kategorial
spezifizierten Seinsarten.
Daß das Sein den Merkmalen, mit denen wir
einen Gegenstand denken, nicht gleichgestellt werden
kann — aus welchem Grunde hyperkritische Logiker
es auch nicht als Prädikat wollen gelten lassen —
ist füglich klar. Wir haben keinen intellectus arche-
typus, d. h. das Denken bringt die seinen Gegen-
ständen korrespondierende Anschauung nicht her-
vor, es findet an der Anschauung immer dann eine
Schranke, wenn es auf synthetische Urteile aus-
geht.**)
Wie aber, wenn trotz der Kritik d. r. V. auf
Grund bloßer Nominaldefinitionen ein Gegenstand
als seiend gedacht wird? Das kann natürlich nicht
verwehrt werden, aber wer das tut, unterwirft sich
*) Kritik d. r. V. A., S. 395. — Die kritische Grenz-
bestimmung, die in der transzendentalen Analytik dem Erkennen
zuteil geworden, macht die originale Bedeutung Kants für die
Ontologie aus; die einzigartige Bedeutung der Erfahrung war
bereits vorher von Bacon bis Hume mit allem Nachdruck pro-
grammatischer Emphase betont worden.
**) cf. R i e h 1, „Der philosophische Kritizismus", I, S. 320,
,,analy tische Urteile sind reine Begriffsurteile — synthetische An-
schauungsurteile".
— 8 -
damit, wenn er den Begriff Sein in dem hier zu-
grundegelegten Sinne nimmt, einer Gerichtsbarkeit,
die seitab der für die Wahrheit der analytischen
Sätze geltenden steht.
Diese vom Denken unabhängige Gerichtsbar-
keit des Gegebenen (der Anschauung) muß die
kritische Erkenntnistheorie anerkennen, wenn anders
sie die synthetischen Urteile auf ihre Gültigkeit be-
werten will. Daher sie zwar des jeweiligen, zumeist
gar nicht möglichen Rekurses auf die gegebene An-
schauung enthoben ist, aber sie als entscheidendes
Kriterium zugrundezulegen hat, um die Be-
sonderungen der empirischen Seinsbegriffe ebenso
wie alle synthetischen Sätze einzig dann als gültig
anzuerkennen, wenn sie dieser ihrer Vorausse'tzung
gemäß sind.
Somit wird für den konsequent methodischen
Erkenntnistheoretiker alles Sein nur als gültig
zu beurteilendes Sein Bedeutung haben; doclf dai?
nicht vergessen werden, daß das Kriterium hiefür
in der Anschauung liegt, sonst wird gleich dem ens
verum Chr. Wolffs das gültig beurteilte Sein
schemenhaft, wie die Gültigkeit der Bejahung selbst.
Die viel berufene Lehre esse est percipi, also
die Konfundierung vom »Gegebensein« des An-
schaulichen mit dem Sein, ist bestenfalls eine Tat
sprachlicher Willkür ohnegleichen.
Das Gegebene ist überhaupt keine Art des
Seins, geschweige dessen ganzer Umfang. Es ist
der unerschöpflich reiche Boden, in dem alle Arten
des Seins wurzeln, über den sich aber auch alle
erheben. Die Anschauung ist die Bedingung für jede
Objektivierung. Ein Chaos, mit dem für sich wenig
zu beginnen ist, und das erst der Verstand *ge-
schäftig, die Erscheinungen in der Absicht zu durch-
spähen, um an ihnen irgend eine Regel aufzu-
> %
— 9 —
finden«*) zu den verschiedenen Arten des Seins
interpretiert.
Das Gegebenheitsurteil ist kein Existenzial-
urteil, weil das Gegebene, als kategorial nicht ver-
gegenständlicht, den übrigen Seinsarten nicht koordi-
niert werden kann.**)
Die Einheit, auf die das Gegebene im
Gegebenheitsurteil bezogen wird, ist die Bewußt-
seinseinheit, Kants transzendentale Apperzeption.
Wenn gemäß der erkenntnistheoretischen Grund-
voraussetzung das Denken in der Anschauung sein
Kriterium finden soll, so muß es zu dieser in^einer
Beziehung stehen; :^also hat alles Mannigfaltige der
Anschauung eine notwendige Beziehung auf das:
Ich denke in demselben Subjekt, darin dieses
Mannigfaltige angetroffen wird«.***)
Der Anschauung, nicht Gegenständen an sich,
steht das Denken gegenüber. Durch kategoriale,
konstruktive Synthese werden die Bewußtseins-
inhalte gedeutet zu Wahrnehmungen von Gegen-
ständen. »Wenn wir untersuchen, was denn die
Beziehung auf einen Gegenstand unseren
Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gebe,
und welches die Dignität sei, die sie dadurch er-
halten, so finden wir, daß sie nichts weiter tue, als
die Verbindung der Vorstellung auf eine gewisse
Art notwendig zu machen.« f)
Die Notwendigkeit, welche solche gegenständ-
liche Regeln der Anschauungsverknüpfungen mit
*) Kritik d. r. V. A., S. 126.
**) Ricker ts Kategorie der Gegebenheit (cf. „Gegenstand
der Erkenntnis", S. 166 ff.) ist keine gegenständliche Kategorie.
***) Kritik d. r. V. B., S. 132.
t) Dass. S. 242. Über den kantischen Begriff des Gegen-
standes als Regel und seinen historischen Hintergrund cf. Windel-
band Präludien, S. 132 bis 147.
— 10 —
sich führen, ist zu deren Faktizität hinzu gedacht
die Kategorien dienen bloß »durch Gründe einer
a priori notwendigen Einheit Erscheinungen all-
gemeinen Regeln der Synthesis zu unterwerfen^. *)
Obschon diese notwendige Zusammengehörig-
keit von Anschauungen zu diesen hinzugedacht isl,
so bleibt doch der Gegensatz zum bloßen
Gedachtsein bestehen, dies will ja eben
der Begriff der Notwendigkeit in den
gegenständlichen Kategorien ausdrücken,
und obschon in der Erfahrung niemals der Gegen-
stand mit den unendlich vielen zu ihm gehörio-en
Anschauungen ins Bewußtsein tritt, sondern immer
nur einzelne Anschauungen, die auf ihn als zu-
gehörig (^repräsentierend*) gemäß der den Gegen-
stand konstituierenden Kategorie bezogen werden,
so ist doch am Gegenstand, abgesehen von der
kategorialen Synthese, nichts als was zur möirljchen
Erfahrung gehört.
Je nach den Kategorien, die die seienden
Gegenstände konstituieren, gibt es verschiedene
Arten von seienden Gegenständen, also liegt das
principium divisionis des in der kategorialen Ver-
gegenständlichung des Gegebenen bestimmten
Gattungsbegriffes Sein nicht etwa in der Ver-
schiedenheit des Anschaulichen in den Wahr-
nehmungen, sondern die Arten des Seins
unterscheiden sich durch die in ihren kate-
gorialen Gegenstandsbegriffen behauptete
Beziehung auf die Anschauuncr.
Solcher Regeln notwendiger Anschauungs-
verknüpfungen kennt Kant nur zwei: die Kate-
gorie der Inhärenz und die Kategorie der Kausa-
htät, und nur der Seinsart der Dinge hat er seine
*) Kritik d. r. V. B., S. 185.
V
— 11 —
Aufmerksamkeit zugewandt. Wenn sich nun zeigen
läßt, daß unter Zugrundelegung eines Seinsbegriffes,
dessen generischer Inhalt die kategoriale Vergegen-
ständlichung der Anschauung ist, dem Sein der
Dinge und dem Sein der Naturgesetze gemäß dem
principium divisionis noch das Sein von Raum und
Zeit und das psychische Sein koordiniert werden
muß, so scheint vielleicht mit dieser Inbeziehung-
setzung der aristotelischen Ontologie mit dem kan-
tisehen Seinsbegriffe nur die Aufgabe eines schema-
tischen Ausbaues der Kategorienlehre und der
Ontologie gelöst. Eine solche Lösung würde sich
indes nach zwei Seiten hin fruchtbar zeigen.
Zuvörderst muß es sich rächen, wenn die
prinzipielle Einheitlichkeit der logischen Struktur
der Erkenntnisgebiete, nämlich der Seinsarten, über-
sehen wird. Dann werden Probleme unter einen zu
engen Gesichtskreis gestellt und damit unlösbar,
wie z. B. der viel berufene Solipsismus, oder
sie werden bei Unkenntnis der übereinstimmenden
Verhältnisse hier und dort in gegensätzhchem
Sinne angepackt, wie es beispielsweise oft mit dem
Begriff des Unbewußten geschieht, oder endlich es
werden artmäßig koordinierte Gebiete vermengt,
wie es etwa der methodologisch begründete psycho-
physische Parallelismus tut.
Andererseits handelt es sich um jene Probleme,
welche die polemische Anpassung an die kantische
Erkenntnistheorie gezeitigt hat durch die Umbildung
des Nominalismus zum Positivismus. Ihn wird die
konsequente Ausgestaltung der kantischen Onto-
logie zwar nicht widerlegen, denn der Positivismus
ist der einzige Gegner, wider den die kantischen
Begriffe nichts ausrichten. Aber sie wird ihn zur
Selbstvernichtung bringen, indem sie — durch die
einzige fundamentale und unverfängliche, weil an
— 12 -
der Anschauung ein stetes Kriterium habende Be-
hauptung der Notwendigkeit der steten Regel-
mäßigkeiten der Erfahrung zu den verschiedenen
Arten des Seins geführt — eine Konsolidierung des
gesamten Erkenntnisgebietes erreicht, von derartig
einheitlichem und festem Gefüge, daß der Positivis-
mus dieses ihn aufhebende System als die »ein-
fachste« Formulierung wird anerkennen müssen,
solange es in der Erfahrung seine Bestätigung findet.
Nun gibt es aber ein Gebiet, in dem der
Nominalismus wirkhch am Platze zu sein scheint.
Mannigfache, sehr ernsthafte Gründe drängen
immer energischer darauf hin, aus der Naturwissen-
schaft eine bloße ts/wj zu machen. Sie soll es
nicht mehr als Aufgabe ansehen, die Natur zu be-
greifen, sondern sich beschränken, Formeln zu
finden, um die Ereignisse zu berechnen (Mach,
Rickert).
Die Begriffe, welche die Naturwissenschaft
einzig in Hinsicht auf diese Zwecke bildet, bean-
spruchen grundsätzlich keine Seinsbedeutung.
Aber dem Nominalismus, der so in der Natur-
wissenschaft vielleicht ohne Opfer durchführbar ist,
darf die Natur, der »Inbegriff aller Gegenstände
der Erfahrung«*) nicht ausgeliefert werden, d. h.
Natur ist eine letzte Voraussetzung, das ontologische
Ordinatensystem, auf dem wir allen Erfahrungen
ihren Ort anweisen; nach der »Annahme des
Geistes, daß ein konstant Wirkliches ein Notwen-
diges sei«**) wird die Phalanx der Seinsarten aus
dem Stoff der Erfahrung aufgebaut.
Und es ist klar, daß, wenn die Gütertrennung
zwischen Begriff und Natur wirklich einmal ernst-
lich in An griff genommen werden sollte, die Natur
*) Kant, Proleg:omena A., S. 74.
*♦) Windel band, Die Lehren vom Zufall, S. 39.
- 13
alles dasjenige beanspruchen wird, was innerhalb
der notwendigen Regeln der Anschauungsver-
knüpfungen eingeordnet werden kann — mag es
auch von der Naturwissenschaft erforscht sein —
und daß ein Mangel an Folgerichtigkeit in der Be-
stimmung des Naturbegriffes, d. h. des Seins-
begriffes, nicht nur einzelne Verwirrungen zeitigt,
sondern das ganze Weltbild verzerren muß.
15 -
Die Realität der Dinge.*)
Begreiflicherweise stand im Mittelpunkt der
ontologischen Fragestellungen allzeit die Realität
der Körperwelt. Die Fülle der gegensätzlichen Lö-
sungsversuche, die die Entwicklung der philo-
sophischen Geschichte zeitigte, ist erstaunlich, er-
staunlich die Schwungkraft, mit der sich gestaltende
Geister von ihrem Ausgangspunkt, der Verbegriff-
lichung der Sinnenwelt, erhoben zu den erdachten
Gebilden weltferner Philosopheme.
Allzugeneigt, die Natur zu vereinfachen auf
Kosten ihrer wahren Vielgestaltigkeit, opfert der
Systematiker, bald das Sein dem Werden, bald
das Werden dem Sein und wieder das Phänomenale
anschauungsfremden Dingen und die Dinge dem
Phänomenalen.
Mit Kants Kritik d. r. V. ist der erkenntnis-
durstige Geist aus seiner Jugendjahre phantastischem
Jagen nach dem 5vtü); ov herausgetreten und hat
sich aberefunden mit der anschaulichen Welt.
♦) Wiewohl auch der Laie bei der Fällung: von Existenzial-
urteilen die Arten des Seins \oneinander unterscheidet, derart,
daß die Priidizierung des Seins zumeist in dem Sinne einer Zu-
ordnung zu einer bestimmten Klasse als seiend bereits aner-
kannter Gegenstände vollzogen wird, kam doch — dies ist eine
erstaunlich logische Barbarei — keine der Kultursprachen dazu,
sie mit einem festen Terminus zu bezeichnen. Sein, Wirklichkeit,
Existenz, Realität werden völlig gleichdeutig gebraucht. Im Fort-
gang dieser Arbeit wird Realität immer das Sein der Körperwelt
bezeichnen.
Welche Gründe auch der Metaphysiker haben
mag, sich ein Svxto: ov zu ersinnen hinter der Sinnen-
welt, so hat doch diese das voraus, daß sie erweis-
lich mehr ist als ein bloßes Hirngespinst. Freilich,
aus Begriffen läßt sich die Realität so wenig wie
die anderen Arten des Seins ableiten, die Aus-
deutung von Gegebenem durch die Kategorie der
Inhärenz zu realen Dingen ist wie alle kategoriale
Vergegenständlichung eine letzte Voraussetzung
über alle möglichen Erfahrungen, die an der wirk-
lichen Erfahrung kein erschöpfendes, aber ein zu-
reichendes Kriterium findet.
Der Dingbegriff ist eine Regel von An-
schauungen derart, daß die zu einem Dinge ge-
hörigen anschaulichen Bestimmungen als seine Eigen-
schaften aufgefaßt werden. »Unsere Synthesis heftet
in dem unsäglich komplizierten Begriffe des Dinges
diejenigen Wahrnehmungen zusammen, als zu einem
Dinge gehörig, die sich beziehen lassen auf einen
Ort im Raum, auf einen kontinuierlichen Ablauf
der Veränderungen, auf eine naturgesetzliche Not-
wendigkeit«.*)
Das Sein der Dinge besteht in ihrer not-
wendigen Beziehung auf die Anschauung. Ein
reales Ding kann zwar selbst weder in der ein-
zelnen Anschauung Bewußtseinsinhalt werden, noch
der Summe der unendlich vielen zu ihm gehörigen
Anschauungen gleichgesetzt werden, und die Ding-
vorstellung als die durch die kategoriale Synthese
hinzugedachte Einheit von Anschaulichem, ist selbst
nicht anschaulich.
Verliert dann nicht das Reale alle Beziehung
zum Bewußtsein? Die Wahrnehmungen sind nicht
real und die Dingeinheit ist nicht wahrnehmbar.
Diese Sch wierigkeit ist nur durch falsche Spitz-
*) Sigwart, Logik II, S. 117 bis 136.
- 16 -
findigkeit geschaffen; es geht nicht an, derartig zu
scheiden, daß auf die eine Seite alle möglichen
Wahrnehmungen, auf die andere das entblößte
Ding gestellt wird. In der Wahrnehmung wird ja
eben das Ding selbst wahrgenommen, nicht etwa
die Empfindung, diese ist gegeben.
Ein Ding wahrnehmen heißt Anschauungen
auf ein Ding beziehen.
So wird der Voraussetzung, daß alles Sein
kategorial intollektuierte Anschauung ist, durch den
Realitätsbegriff entsprochen : abgesehen von dem
kategorialen a priori ist an den Dingen nichts als
Anschauliches.
Die Wahrnehmungsnotwendigkeit ist eine all-
gemeine, d. h. überall, wo die Bedingungen zur
Wahrnehmung eintreten, müssen die realen Dinge
wahrgenommen werden, Halluzinationen, Illusionen,
Traumbilder, mögen sie sich auch inhaltlich in nichts
von dem normal wahrgenommenen unterscheiden,
sind nicht real, weil sie nicht zu einer Regel einer
allgemein notwendigen dinglichen Anschauungsver-
knüpfung gehören.
Anderseits muß Realität auch dem nicht Wahr-
genommenen zugeurteilt werden, insofern es nur
unter bestimmten Bedingungen wahrnehmbar ist.
Auch das weder hie et nunc Wahrgenommene, noch
durch frühere Wahrnehmungen Bekannte, noch
auch als wahrnehmbar je Erschlossene ist real,
sofern es nur eine notwendige Beziehung auf mög-
liche Wahrnehmung hat. So Kant im zweiten »Postulat
des empirischen Denkens«. »Was mit den materialen
Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zu-
sammenhängt, ist wirklich.«
Selbstverständlich muß Wahrnehmbarkeit weit
genug gefaßt werden. Infusorien, dem unbewaffneten
Auge nicht sichtbar, werden es durch das Mikroskop,
J
~ 17 -
die Rückseite des Mondes durch Verlassen des
terrestrischen Standpunktes, die Fixstern weiten, die
nie am nächtlichen Himmel aufleuchten, erschließen
sich dem Weltenwanderer.
Ahnend steht der Mensch vor der unermeß-
lichen Fülle der Natur, wenig erfährt er von dem,
was sie zu ihm spricht »zu bekannten, verkannten,
unbekannten Sinnen«.*)
Wer durch die Tat des Kopernikus schwindeln
gemacht, den anthroprozentrischen Standpunkt
wieder zu gewinnen trachtet, indem er die Dauer
der Welt von dem Dasein wahrnehmender Menschen
abhängig machen will, mißbraucht die kantische
»kopernikanische« Tat. Als ob Kant nach der Kritik
d. r. V. seine »Naturgeschichte des Himmels« ver-
leugnet hätte. Als ob die Wahrnehmbarkeit des
Realen endet, sobald es an Geschöpfen fehlt, wahr-
zunehmen. Die notwendige Beziehung auf die An-
schauung, die wir den Dingen zuurteilen, ist unab-
hängig von allem tatsächlichen Anschauen. Vor-
stellbar ist es ja freilich nicht, was ein Reales sei,
ohne daß es wahrgenommen wird. Obschon der be-
griffliche Wert der Realität durch das Merkmal
der Wahrnehmbarkeit ausreichend bestimmt ist,
scheint doch keine befriedigende Formel gefunden.
Das in der Unentrinnbarkeit des naiven
Realismus sich äußernde Bedürfnis, das Reale als
ein Wahrgenommenes zu hypostasieren ohne Be-
ziehung auf die wirkliche Wahrnehmung, wird
immer die Formulierung: real sind die wahrnehm-
baren Dinge, als ungenügend empfinden.
Der Grund liegt nicht so sehr in dem Beharren
der Wahrnehmungswelt als in ihrer steten Ver-
änderung. In den Wahrnehmungen offenbart sich
ein Kontext des Geschehens, dessen kontinuierlicher
*) Goethe, Farbenlehre. Vorwort.
Pich 1 er, Arten des Seins.
2
— 18 —
Ablauf unabhängig erscheint von der Diskontinuität
der Wahrnehmungen.
Das Problem des naiven Realismus, wie die
Dinge aussehen, wenn sie nicht wahrgenommen
werden, hat in gegensätzlicher Weise zu Phäno-
menalismus und transzendentalem Realismus ge-
führt. Der fundamentalen These des PhänomenaHs-
mus, daß das Reale nur etwas im Bewußtsein ist,
setzt der Realismus die Hypostasierung von Bewußt-
seinsinhalten als unabhängig von allem Bewußtsein
entgegen und unterscheidet sich damit vom naiven
Reahsmus nur durch die Auswahl der zu hyposta-
sierenden Bewußtseinsinhalte und die Systemati-
sierung der naiv-realistischen Naivität. Hingegen
schlägt das esse est percipi des PhänomenalTsmus
freilich den Knoten durch, doch auf eine so brutale
Weise, daß damit nicht nur die Kontinuität des Re-
alen, sondern alle Arten des Seins sich auflösen
und in ein Chaos von Bewußtseinsinhalten zer-
fallen.
Aber es ist nicht eben notwendig, nach un-
befriedigter Durchmessung von naivem und trans-
zendentalem Realismus und Phänomenalismus sich
dem Agnostizismus zu verschreiben, denn die un-
lösbare Aufgabe enthält einen Widerspruch in der
Fragestellung: da wir alle unsere anschaulichen
Vorstellungen von der Welt nur den Sinnes-
erfahrungen verdanken, ist es ein Nonsens, sich an-
schaulich vorstellen zu wollen, wie die Welt un-
anschaulich aussieht.
Auch bestehen keine sachlichen Notwendigkeiten,
auf diese Weise um die Ecke zu sehen; solange
die Wahrnehmbarkeit gewiß ist, können wir von
den Dingen sprechen, als wären sie stets in den
Wahrnehmungen gegenwärtig. Ein wirkliches Pro-
blem liegt dem einhelligen Streben so vieler svste-
M
— 19 ~
matischer Gegensätze über den naiven Realismus
hinaus freilich zugrunde. Es ist die Kluft zwischen
anschaulicher und begrifflicher Welt, jener Gegen-
satz, der, vom Anbeginn des philosophischen Denkens
empfunden, in den metaphysischen Systemen zu
einer Steigerung ins Grenzenlose drängte und erst
von Kant in seiner endgültigen Notwendigkeit be-
griffen und fruchtbar gemacht wurde.*)
Eine Begründung des Realitätsbegriffes gegen-
über dem Phänomenahsmus ist seit der Kritik
d. r. V. nicht mehr vonnöten.**)
Und eine Beurteilung der Natur als Sinnen-
schein mittels sinnesphysiologischer Beweistümer
bringt ihren Gewährsmann, die Sinne, in die nicht
weiter ernst zu nehmende Rolle des bekannten
kretischen Lügners: sie, die ja auch ein Stück
Sinnenwelt sind, zeugen dann gegen sich selbst.
Dergleichen Argumentationen haben auf die
Begriffsentwicklung auch nichts vermocht, aber ein
ähnlicher weniger zugespitzter Gedankengang
die Unterscheidung der primären und sekundären
Qualitäten — ist nicht ohne tiefgreifende Wirkung
auf den Realitätsbegriff geblieben.
Die von Demokrit systematisch begründete
Ausscheidung bestimmter Empfindungsmodahtäten
als subjektiv ist unstreitig eine Großtat natur-
wissenschaftlicher Abstraktion, hat indes durch ihre
Übernahme in den Naturbegriff nur eine unglück-
selige Verarmung desselben herbeigeführt, an der
noch die Gegenwart leidet.
Auch durch die sogenannten subjektiven Sinne
werden die Dinge selbst wahrgenommen, wir haben
*) cf. Düssel, „Anschauung, Begriff und Wahrheit".
**) Kants spezieHe „Widerlegung des Idealismus" richtet
sich indes nur gegen den Spiritualismus.
— 20 —
Gehörsempfindungen, beziehen sie gemäß der Kate-
gorie der Inhärenz auf einen Gegenstand und sagen
etwa *\vir hören eine Glocke«. Dem Einwand, daß
nicht die Glocke gehört wird, sondern nur Töne,
kann die Weglassung der Beziehung auf den Gegen-
stand auch beim Getast entgegengesetzt werden, es
läßt sich ebenso sagen »ich taste keine Glocke, ich
habe nur Druckempfindungen«. Die Beziehung auf
bestimmte Dinge ist ja nicht ohne weiteres möglich,
daß wir Bäume sehen, das Rauschen der Blätter
hören, von der Sonnenwärme durchströmt werden,
muß erst gelernt werden.
Daß die Bestimmungen der Dinge, die wir durch
die sogenannten subjektiven Sinne erfahren, mit
ihnen räumlich und zeitlich viel weniger eng ver-
haftet sind wie die materiellen, kann ihre Sub-
jektivität nicht begründen.
Das Interesse des Naturforschers für das mecha-
nische Geschehen ist wohl begründet. Da die Natur-
wissenschaft den Gang der Ereignisse zu berechnen
trachtet, sind die Beschaffenheiten der Dinge für sie
um so wesentlicher, je mehr sie sich zu solcher
Absicht eignen, und da dies der Fall ist bei den
materiellen Quanta mit ihren Volumen-Gruppierungs-
und Bewegungsveränderungen, empfiehlt sich die
vorzugsweise Bearbeitung des mechanischen Ge-
schehens von vornherein.
Dadurch wird zugleich der Naturforschung die
Aufgabe aufgedrängt, für iiualitative Veränderungen
der Dinge funktionelle Beziehungen zu suchen zu
mechanischen, ein Ziel, dem gerade moderne Ent-
deckungen uns bereits nahe gebracht zu haben
scheinen. Gesetzt, daß die physikalische Theorie, die
alles Geschehen in der Welt auf mechanische Ver-
änderung zurückführt, richtig ist, eine Frage, über
— 21 —
die nur die zielbewußte experimentelle Befragung
der Erfahrung zu entscheiden hat, so würde als die
einzige Energieform die mechanische Kraft an-
zuerkennen sein, und das Eintreten von akustischen,
optischen (elektrischen, magnetischen, chemischen)
Wärme-, Geruchs- und Geschmacksveränderunsen
wäre bedingt durch molekulare Konfiguration und
Bewegung.
Damit wäre der Begriff einer Welt erarbeitet,
in der alle Vorgänge sich anschauen ließen als
molare und molekulare Bewegungen oder als ge-
knüpft an solche, bewirkt von Kräften, deren Stärke,
Zu- oder Abnahme eine Funktion von Masse und
Bewegung ist.
Aber diese Errungunschaften des zählenden
und messenden Denkens sind nicht dazu dienlich,
um alle Veränderungen, deren funktionelle Beziehung
zum mechanischen Geschehen nachweisbar ist, zu
subjektivieren, der Natur also einen Teil ihres an-
schaulichen Reichtums abzustehlen, unter dem Vor-
geben, daß Farbe, Ton etc. eigentlich Molekular-
bewegungen seien, womit schließhch doch nur kurzer-
hand die Identität der primären und sekundären
Qualitäten behauptet wird.
Möge im mechanischen Geschehen der kos-
mische Pulsschlag entdeckt sein, so daß Farbe, Ton,
Wärme usf. an sich regungslos sind, ohne Tendenz
zur Veränderung, und nur das mechanische Ge-
schehen fort und fort treibt, jede erreichte Kon-
stellation die nächste herbeiführt, weil die Kräfte
sich ändern mit den Entfernungen und als andere
wieder neue Geschwindigkeiten und Gruppierungen,
neue Formen, Farben, Töne und Temperaturen be-
wirken, so werden doch damit die sogenannten
sekundären Qualitäten nicht aus der Anschauung,
22 -
die sich auf Dinge beziehen läßt, einfach ausgelöscht,
sondern gerade ihre erkannte Gesetzmäßigkeit zwingt,
wenn anders mit dem Dingbegriff als einer bestimmten
Regel der notwendigen Anschauungsverknüpfung
ernst gemacht wird, sie als Eigenschaften auf reale
Dinge zu beziehen.
Seinen eigentlichen Halt findet der Naturbegriff ,
der nur Kraft und Massenbewegungen kennt, in
dem Vorurteil, daß diese Bestimmungen der Dinge
nicht so sehr anschaulich erfahren als rational er-
kannt werden.
Aber an den realen Dingen gibt es nur an-
schauliche Bestimmungen und zwischen den an-
schaulichen Bestimmungen herrscht keine Rivalität.
Weder von Ausdehnung, Lage, Bewegung noch von
Masse und Kraft wissen wir mehr als die An-
schauung lehrt.
Ward indes erst mit Kants transzendentaler
Aesthetik (resp. der Inaugural-Dissertation) die
Zugehörigkeit der räumlichen Bestimmungen zur
Anschauung begründet, so haben Masse und Kraft
sogar noch gegenwärtig einen merkwürdig rationalen
Habitus.
Wie durch die sensoriellen Sinne Farbe, Ton etc.
erfahren werden, so durch Getast und die entopheri-
schenviel zusehr übersehenen Spannungs- und Druck-
empfindungen die mechanischen Kräfte. Dieser
wichtige Bestandteil der Erfahrung hat das sehr
eigenartige Schicksal gehabt, daß zwar seit Galilei
die Physik ihn mehr und mehr zur Naturerklärung
heranzog, aber nichtsdestoweniger seine Legitimation
durch die Erfahrung meist mißkannte und daher
durch die vermeintliche metaphysische oder psycho-
logische Kontrebande sich ein schlechtes Gewissen
und unzählige Anklagen zuzog.
— 23
Würde die Schwere eines Körpers dem tragen-
den Arm sich nicht als Spannungs- resp. Druck-
empfindung kundgeben, wäre die Wucht des Stoßes
in der Empfindung nicht von dem leichten Kitzel
der Berührung zu unterscheiden, so wüßte der
Mensch so wenig von der Kraft, wie der Blinde
von der Farbe.
Die Vorstellung von Kräften in der Welt ist
weder anthropomorphistisch noch mythologisch und
enthält durchaus keine psychologischen Willens-
übertragungen. Aber sind nicht die Muskelempfin-
dungen als Begleiterscheinungen bei Stößen der
Körper auf den menschlichen Leib eine die stete
mechanische Wirkung empfindungsloser Massen auf-
einander gar nicht charakterisierende Bestimmung?
Wie schon oben ausgeführt, ist es ein Wider-
sinn, sich anschaulich vorstellen zu wollen, wie die
Welt unanschaulich aussieht. Die Berechtigung, von
kontinuierlichen Eigenschaften der Dinge zu sprechen,
liegt darin, daß sie kontinuierhch wahrnehmbar
sind. Richtigen Gebrauch von ihr macht auch der-
jenige, der von Kräften spricht, die hie et nunc
nicht sinnlich empfunden werden. Die Kraft, mit
der sich zwei Körper anziehen, hat eine notwendige
Beziehung auf eine mögliche Erfahrung oder sie
ist nichts. Die sichtbare Bewegung der Massen ist
selbstverständlich keine Wahrnehmung der Kräfte,
sondern nur eine Wahrnehmung der Wirkungen
der Kräfte.*)
Wirken ist der verbale Ausdruck von Kraft.
Der Kraft ist das Wirken so wesentlich, wie dem
Ton das Tönen.
Gewiß hat Hume darin recht, daß das aus dem
Wirken der Kräfte kausal Erfolgende nicht aus
*) Mit genauerem Ausdruck: die Bewegung der Massen ist
ein durch Kräfte bewirktes.
— 24 -
ihrem Begriffe analytisch herauszuklauben ist. Unter
Wirken ist ja auch nur Druck und Zug vorzu-
stellen, keineswegs die sichtbare Bewegung von
Massen mit ihren tausendfältigen räumlichen und.
zeitlichen Bestimmungen. Daß trotzdem die Kraft
zu der bewirkten Bewegung in gewisser anschau-
licher Beziehung steht, liegt in ihrer eigen-
artigen räumlichen Bestimmtheit. Druck
und Zug enthalten entgegengesetzte Richtungs-
empfindungen, die sich in der bewirkten sichtbaren
Bewegung fortsetzen. Da die Kraft nur an ihren
extensiven Wirkungen gemessen werden kann, läßt
sie sich, sobald es nicht auf Naturbeschreibung,
sondern nur darauf ankommt, Masse und Bewegung
zu berechnen, selbstverständlich durch einen ganz
abstrakten »Energie «-Begriff ersetzen. Als ontisches
System aber bietet die Energetik statt der lebendigen
Natur bloße Relationsbegriffe, und die Hylokinetik
verzichtet auf einen Teil der Sinneserfahrung, um
dann der verstümmelten Natur mit künstlichen
Hypothesen die geraubten Kräfte zu ersetzen.
Es kann selbstverständlich der Naturwissen-
schaft nicht verwehrt werden, wenn, um bestimmten
Aufgaben leichter gewachsen zu sein, sie in immer
höherem Maße zu bloßen Formeln greift. Nur darf
sie diese nicht geheimnisvoll in die Sinnenwelt ein-
schmuggeln und dann klagen, daß wir nicht wissen,
was Energie oder gar Kraft eigentlich ist.
So wird auch der formelhafte naturwissen-
schaftliche Begriff der Materie als ein dunkles Etwas
an den Dingen behauptet, und dann ist es nicht
weit zur Resignation, daß uns der Blick ins »Innere
der Natur« versagt sei. W^as die Materie an den
realen Dingen ist, wissen wir durch unser Getast.
Da die mit diesem wahrgenommene, Widerstand
leistende Undurchdringlichkeit der Dinge aus Wahr-
25 —
nehmungen von Kräften besteht, ist die dynamische
Theorie der Materie*) durchaus naturbeschreibend,
und es ist bezeichnend, daß Kant, obschon er über
das »dari non intelligi« bezüglich der Kräfte nicht
mit sich im reinen war, doch forderte, daß das »sog.
Solide, oder die absolute Undurchdringlichkeit als
ein leerer Begriff aus der Naturwissenschaft ver-
wiesen und an ihrer Statt zurücktreibende Kraft
gesetzt werde.«**)
Daß wir durch das Getast die Materie wahr-
nehmen, wie den Ton durch das Gehör, ist natürlich
nicht ganz richtig. Die Materie ist keine einzelne
anschauliche Bestimmung der Dinge, sondern als
der undurchdringliche, raumerfüllende, stets mit den
Dingen gesetzte Kern ein unerschöpflich anschauungs-
reicher Teil der dinglichen Regeln notwendiger An-
schauungsverknüpfungen, der zwar veränderlich ist
— durch Teilung oder Verbindung der Massen —
aber als die unumgängliche Bedingung der wechseln-
den Eigenschaften nie ganz fehlen kann, daher man
denn die Materie das Substrat nennt, dem die
wechselnden Eigenschaften inhärieren, oder in nicht
vöUig einwandfreier Ausdrucksweise auch mit dem
Dinge selbst identifiziert.***)
Neben jene Aeußerung der kategorialen Syn-
thesis durch die Beziehung der einzelnen An-
schauung auf ein Ding als seine Bestimmung und
eines beharrlichen Kernes in der Anschauungs-
verknüpfung als seine Materie, tritt die Beziehung
von mehr oder minder dauernden Gleichförmig-
*) cf. E. V. Hartmann, „Die Weltanschauung der modernen
Physik", S. 204 ff.
**) Kant, „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissen-
schaft", S. 239. (Kirchmann.)
***) cf. Kritik d. r. V., A. 182. »Alle Erscheinungen enthalten
das Beharrliche (Substanz) als den Gegenstand selbst und das
Wandelbare als dessen bloße Bestimmung."
- 26 -
keiten der Anschauung als Beschaffenheiten, Eigen-
schaften und Zustände.
Die je einen bestimmten Teil des Raumes er-
füllenden Dinge, die in einem stets wechselvollen
Spiele der anziehenden und stoßenden Kräfte im
unermeßlichen Räume treiben, bilden ein System
mit durchgängiger Wechselwirkung, in dem unter
Annahme streng mechanischer Ordnung alles Ge-
schehen bedingt ist durch molare und molekulare
Gruppierung und Bewegung.
Die Fülle des Anschaulichen, mit der Natur
unseren Sinnen sich mitteilt, wird weder der be-
grifflich konsequente, noch der sinnenfrohe Mensch
denken in einem Naturbegriff, der den größten Teil
der anschaulichen Sinneserfahrung in den Menschen
»introjiziert«.
Angesichts der eigenartigen nicht auf die
Naturbeschreibung, sondern auf die Naturverein-
fachung gehenden Methode der Naturwissenschaft
bleibt die Frage offen, ob ihren Äther-, Atom-,
Molekülbegriffen usw. Seinsbedeutung zukommt.
Urteilt man den in Frage stehenden materiellen
Strukturelementen Sein zu, so denkt man sie eben
als real, die Frage, ob solche Existenzialsätze gültig
sind, wird durch die experimentelle Forschung zur
Entscheidung gebracht. Sie sind real, wenn sie
unter geeigneten Bedingungen wahrnehmbar wären.
Infinitesimale diskrete Massenteilchen sind
keinesfalls mehr als Einheitsbegriffe des Denkens.
In früheren Zeiten, wo der Naturforscher noch
das Universum dachte als einen Kosmos, in dessen
Struktur einzudringen Genuß sei, wären die vielen Be-
lege, durch die sich nun in unseren Tagen die Annahme
von Strukturelementen gerechtfertigt hat, gepriesen
worden, wie eine Naturentdeckung; in der Gegen-
wart ist es Gewohnheit, von ihnen nur als von Be-
> i
_ 27 —
griffen zu sprechen, obschon durch sie unsere
Kenntnisse immer sinnvoller sich zusammenrunden
zu einem Verständnis des kosmischen Ganzen.
Wenn die Atome mehr sind als ein bloß ge-
dachtes, als »ein mathematisches Modell zur Dar-
stellung der Tatsachen« (Mach), so widerlegen sie
keineswegs die anschauliche Welt der Sinne. Als
reales sind sie nicht das eigentlich Reale und
unsere Sinnenwelt nur Schein, sondern selbst ein
Stück Sinnenwelt in bestimmter Perspektive.
Gibt es doch überhaupt keine eigentlichen
Beschaffenheiten der Dinge. Daß diese je nach der
Perspektive auf verschiedenartigste Weise wahr-
genommen werden, ja daß ein für unser Getast
fester Körper unter anderen Bedingungen als ein
molekularer Mückenschwarm erscheint, kann seine
Realität nicht beeinträchtigen.
Relativ ist naturgemäß jede einzelne An-
schauung, die die unerschöpflichen Anschauungs-
möglichkeiten eines Dinges repräsentiert, und als
relativ müssen wir ebenso die menschliche Sinnen-
erfahrung in ihrer Gesamtheit denken.
Die Naturgesetze.
Die Erfahrung lehrt mehr oder minder aus-
geprägte Gleichförmigkeiten des Naturgeschehens
unter gleichen Bedingungen. Die naturgesetzliche
Notwendigkeit ist zu der Faktizität der andauernden
Sukzessionsordnung bestimmter Ereignisse hinzu-
gedacht, wie die dingliche Notwendigkeit zu der
Erfahrung beharrender anschaulicher Komplexe.
Naturgesetze sind durch die Kategorie der Real-
dependenz bestimmte Regeln der Anschauungs-
verknüpfung; sie existieren, wenn der in ihnen
behaupteten Anschauungsverknüpfung, ihrer Geltung
für das Geschehen, Notwendigkeit zukommt, wofür
das Kriterium ihre andauernde Bestätigung in der
Erfahrung ist. Würde es dem Sprachgebrauche
nicht widerstreben, so könnte man von der Wahr-
nehmbarkeit der Naturgesetze folgerichtig sprechen,
wie von der Wahrnehmbarkeit der Dinge.*)
Die in den Naturgesetzen gedachte Notwendig-
keit, die bestimmte Erscheinungen mit anderen ver-
knüpft, läßt sich nicht anschaulich vorstellen, weil
sie nicht aus der Erfahrung stammt.
Doch ist das Gelten«**) der Naturgesetze nicht
dunkler wie die Notwendigkeit der übrigen gegen-
ständlichen Regeln der Anschauung, welche alle
*) Jedenfalls sind die Naturgesetze keine dsi?^ wie die
platonischen Ideen.
**) cf. Lotze, Logik §§ 318 bis 321.
— 29 —
die Faktizität steter Gleichförmigkeiten durch die
Behauptung ihrer Notwendigkeit für alle möglichen
Erfahrungen begründen.
Bei bestimmten gleichen Bedingungen ein-
tretende gleiche Veränderungen realer Dinge, die
ausschließlich den Gattungscharakter teilen, werden
zu einer naturgesetzlichen Notwendigkeit inter-
pretiert, die für alle Exemplare der Gattung gilt.
Würde jedes individuelle Ding nur individuelle
Gleichförmigkeiten des Geschehens zeigen, so dürfte
neben die im Dingbegriffe gedachte Notwendigkeit
nicht noch die der Naturgesetze treten.
Doch da die Naturgesetze generelle Regeln
der Anschauungsverknüpfung sind, u. zw. Regeln,
die nicht in den seienden individuellen Dingen
bereits gesetzt sind, sondern jederzeit und überall
bestimmte Erscheinungen als Bedingungen mit
anderen als ihren Folgen verknüpfen, sind Dinge
und Naturgesetze als zu sondernde Seinsarten an-
zuerkennen. Ihre spezifische Differenz findet den
Ausdruck in der Verschiedenheit der Kategorie
der Inhärenz und der Realdependenz.
Nun dient jedoch der generelle Charakter der
Naturgesetze als Beweisgrund gegen ihre Existenz,
u. zw. in zweifachem Sinne.
Entweder werden sie nominalistisch dargestellt
als bloße Allgemeinbegriffe, indem ihrer generellen
eine bloß universelle Bedeutung unterschoben wird.
Der Beweisgang spielt sich dann auf Grund der
Substitution rasch ab, da das üniversalienproblem
längst gelöst ist, und nachdem lange der Begriff
zum Sein gemacht war, wird das Spiel vergolten
durch Deklassierung von Seiendem zum Begriffe.
Aber die Naturgesetze sind ihrer Bedeutung
nach keine bloßen Allgemeinbegriffe. Logisch stehen
30 —
sie — bei aller inhaltlichen Disparatheit — hierin
den Normen näher.
Der Gesetzgeber, der beispielsweise Mord mit
Todesstrafe geahndet wissen will, hat damit wohl
ein allgemeines Gesetz für besondere Fälle aufgestellt,
aber kein aus besonderen Fällen verallgemeinertes.
Wenn der Naturforscher die Gesetzmäßigkeit
der Erscheinungen beobachtet, verallgemeinert er,
dies ist der Weg der psychologischen Kenntnis-
nahme ;*) ebenso könnte auch ein eifriger Tribünen-
besucher sich mit der Zeit das Strafgesetzbuch er-
klügeln.
Wer die Naturgesetze zu bloßen Allgemein-
begriffenmacht, raubt der Induktion ihre Begründung,
die einzig in dem Postulat der Naturgesetzlichkeit
besteht,**) und reißt die Natur aus ihren Angeln, in
welchen sie ihren Halt findet durch die »Annahme
des Geistes, daß ein konstant Wirkliches ein Not-
wendiges sei«, welche supponierte Notwendigkeit
in allen ontologischen Gegenstandsbegriffen die-
selbe ist.
Der nominalistischen Beweisführung ^egen die
Existenz der Naturgesetze steht der neuerdings von
Ricker t erhobene Einwand nahe.***)
Der nervus probandi liegt hier in der These,
daß das individuelle Gegebene nicht unter all-
gemeinen konstitutiven Verknüpfungen stehen kann,
und Rick er t glaubt deshalb den Begriff einer nur
individuellen Kausalität kreieren zu "müssen. Aber
der nervus probandi ist eine petitio principii, wenn
er die Beziehung des Besonderen zum Allgemeinen
♦) cf. S ig wart, Logik U, S. 419.
**) Dass. S. 434 ff.
***) cf. Rickert, „Gegenstand der Erkenntnis", S. 211
bis 217.
— 31 -
Überhaupt nur als logische gelten läßt*)**), und er
ist nicht stichhaltig, wenn er die Tatsache, daß die
individuellen Erscheinungen in individueller Kausal-
verknüpfung mit ihren Bedingungen stehen, dahin
deutet, daß existierende generelle Naturgesetze dann
»offenbarer Widersinn« seien.
Gewiß ist die kausalnotwendige »Aufeinander-
folge zweier Ereignisse nicht schon eine gesetz-
mäßige Aufeinanderfolge«, sondern eine nur in-
dividuelle, aber notwendige Verknüpfung ist sie
einzig dadurch, daß sie der besondere Fall eines
generellen Naturgesetzes ist. Auch bei Anerkennung
der Realdependenz als konstitutiver Kategorie, und
nur dann, besteht zwischen den individuellen Er-
eignissen eine individuelle Verknüpfung, aber alle
individuellen Verknüpfungen sind notwendige, weil
sie die besonderen Fälle genereller Naturgesetze
sind, und die in einem Naturgesetze behauptete
Notwendigkeit als einer Regel der Anschauungs-
verknüpfung besteht in nichts anderem als in der
für alle ihre besonderen Fälle bestehenden Not-
wendigkeit der individuellen Verknüpfung der Be-
dingungen mit ihren Folgen.
Ohne die Anerkennung existierender Natur-
gesetze fällt aller Sinn aus dem Kausalprinzip
heraus;***) die bloße Aufeinanderfolge zweier Ereig-
nisse als notwendig anzusprechen — wenn überhaupt
*) cf. Dass. S. 215.
**) Die Erkenntnistheorie kann vielmehr nur durch die Real-
dependenz des Besonderen vom Allgemeinen die Berechtigung
und die Möglichkeit der logischen Dependenz, ja aller Begriifs-
bildung, insoweit es auf synthetische Urteile abgesehen wird, be-
greifen.
***) cf. H e 1 m h o 1 1 z, „üeber die Erhaltung der Kraft", Zu-
sätze a. d. J. 1881 : „Ich habe mir erst später klargemacht, daß das
Prinzip der Kausalität in der Tat nichts anderes ist als die
Voraussetzung der Gesetzlichkeit aller Naturerscheinungen."
— 32 -
— 33 —
damit etwas gesagt ist, so nur auf Umwegen, die
entbehrlich sind, weil die individuelle Verknüpfung
durch die Naturgesetze nicht nur nicht beeinträchtigt,
sondern im Gegenteil begründet wird.
Bei Anerkennung der Realdependenz als onto-
logischer Kategorie hat die Betrachtung individueller
Kausalverknüpfungen ihren guten Sinn, nur wird
man, um ein individuelles in seiner Integrität als
die Ursache eines andern bezeichnen zu können,
nichts geringeres als eine ganze Weltkonstellation
eines Augenblickes der des nächsten gegenüber-
stellen müssen, da jedes einzelne Naturereignis nie-
mals als die vollwertige Ursache eines anderen an-
gesehen werden kann, sondern dieses in noch
unzähligen anderen individuellen Verknüpfungen
steht, und daher bleibt die einzelne Betrachtung
nach Ursache und Wirkung stets eine höchst
ungenaue Anwendung des Kausalprinzips.
Die Naturgesetze sind nicht selbst Ursachen
ihrer besonderen Fälle, sowenig wie das Ding Ur-
sache seiner Bestimmungen*) und der Raum seiner
Teile; die Notwendigkeit, die in den gegenständ-
lichen Kategorien als Regeln der Anschauungsver-
knüpfungen gedacht wird, ist sui generis und nicht
zu identifizieren mit der aus einer von ihnen
abgeleiteten Notwendigkeit: der ätiologischen
Verknüpfung.
Zwischen Naturgesetzlichkeit, kausalem Ver-
hältnis und Wirken der Kräfte ist genau zu unter-
scheiden. Ganz ungeheuerlich ist die Darstellung
der naturgesetzlichen Notwendigkeit als eine dyna-
: ■/.
*v.
*) Schopenhauer sah dies in „der vierfachen Wurzel"
bezüglich der Naturgesetze ein, brachte aber eine große Ver-
wirrung hervor durch die Behauptung, daß der menschliche Ver-
stand in den Dingen die Ursachen ihrer Bestimmungen zu
denken veranlagt sei.
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mische. Die Kräfte sind ein Bestandteil des An-
schaulichen und, da sie zu den bewirkten Körper-
bewegungen in jenem gesetzmäßigen Verhältnis
stehen, das die Mechanik lehrt, ein Teilgebiet der
kausalen Verknüpfungen. Zumeist wird die Natur-
gesetzlichkeit viel zu isoliert abgehandelt als ein
über den Dingen thronendes Geheimnis, während die
Naturgesetze wie die Dinge aus der Erfahrung
kategorial konstruiert werden und logisch Real-
dependenz und Inhärenz sich durchaus gegenseitig
tragen. Die Kategorie der Inhärenz stellt eine Regel
der Anschauungsverknüpfung dar, deren Bedeutung
nicht darin besteht, ein gänzlich beliebiges Vielerlei
von Anschauungen zusammenzufassen ; die in ihr
behauptete Zusammengehörigkeit von Anschauungen
empfängt ihren begriffhch formulierbaren Sinn erst
unter dem Gesichtspunkt der Naturgesetzlichkeit.
Ein Ding ist die Regel derjenigen anschaulichen
Bestimmungen, die bedingt sind durch die Struktur
seines materiellen Kernes und dessen Verhältnis zu
den übrigen Dingen; und die Dinge sind allgemein
wahrnehmbar, insoweit die Erfahrung gesetzmäßig
bestimmt ist.
Es ist angesichts der durchgängigen Wechsel-
wirkung klar, daß jedes Wahrnehmen bestimmter
Dinge fließend ist, da alle Anschauungen abhängig
sind von den Bestimmungen aller Dinge ; daher gilt
das Wort des Nikolaus von Cues omnia ubique
auch für jede einzelne Sinnes Wahrnehmung, weil in
jeder das ganze Universum wahrgenommen wird.
Damit ist der Sinn, Anschauungen eher auf
dieses als auf jenes Ding zu beziehen, nicht auf-
gehoben, da die Anschauungen auf sehr verschiedene
Weise, gemäß ihrer kausalen Abhängigkeit, die
verschiedenen Dinge charakterisieren. So nehmen
wir am Telephon die Stimme des Anrufenden wahr,
Pichler, Arten des Seins. 3
— 34 -
im Spiegel unser Antlitz, am Himmel vor Jahr-
tausenden erloschene Fixsterne, so werden alle
Argumentationen hinfälHg, daß nicht die Zustände
der Dinge, sondern nur die der Sinnesorgane wahr-
genommen werden, da doch die Beziehung der An-
schauungen auf die Außendinge die Beziehung auf
die Sinnesorgane nicht ausschließt.
So grundlegend die Anerkennung existierender
Naturgesetze in unserem Weltbegriffe und bestim-
mend im menschlichen Leben ist, so bleibt dennoch
ihre Kenntnis stets nur hypothetisch und skizzen-
haft. Hypothetisch ist das Sein eines jeden Gegen-
standes, der aus einzelnen Anschauungen konstruiert
wird, aber die Induktion der Naturgesetze ist der
schwierigste und dem Irren preisgegebenste Teil
des menschlichen Forschens nach dem Seienden.
Doch wird unser Wissen von den Naturgesetzen
um so sicherer, je einheitlicher es ausgebaut wird.
Bekanntlich hat Kant in der Kritik d. r. V.
die Deduzierbarkeit der empirischen Naturgesetze
in Abrede gestellt. Der Entwicklungsgang der Natur-
wissenschaft macht es aber wahrscheinlich, daß
immer mehr die Darstellung der Naturgesetze sich
die Methode der Geometrie aneignen werde. So ist
die Mechanik bereits eine deduktive Wissenschaft
geworden ; aus einem, resp. mehreren zugrunde ge-
legten Prinzipien und dem Begriff von Materie,
Raum und Zeit beweist sie ihre Gesetze; aus der
Mechanik sind bereits die Gesetze der kinetischen
Gastheorie abgeleitet.*) Daß die gesetzmäßige Ver-
knüpfung der optischen, akustischen, thermischen etc.
Qualitäten mit molekularen Bewegungen nicht aus
*) Wenn die Sätze der kinetischen Gastheorie nur den
„Charakter statistischer Wahrheiten haben" (cf. Boltzmann
„Entgegnung", Annalen d. Physik, Bd. LVII), so sind sie natürlich
keine Naturgesetze.
1
— 35 —
einem rein mechanischen System der Naturgesetze
abgeleitet werden kann, ist offenbar. Wie die
Mechanik Raum und Zeit und Masse, so muß sie
auch diese Qualitäten voraussetzen.
Ein deduktives System der Naturgesetze hätte
zwar eine eminent wissenschaftliche Bedeutung, aber
nur eine geringe ontologische, denn durch ein
solches würde das Verhältnis der Naturgesetze zur
Anschauung nicht verändert. Ein selbständiges Sein
kommt den deduzierbaren Naturgesetzen nicht zu.
Alle Gleichförmigkeiten des Geschehens ohne
strenge Gesetzmäßigkeit begreifen wir als erfolgend
aus der Konstanz bestimmter Bedingungen.
Indes die Gleichförmigkeiten in der realen
Welt aber als durchgehends auf Naturgesetze zurück-
führbar angesehen werden, ist die Gesetzlichkeit
des Psychischen noch in hohem Maße problematisch.
Der Vorschlag mittels Gehirnphysiologie das psy-
chische Geschehen auf das mechanische umzurechnen,
ist einstweilen nur eine Phantasie. Die sog. Asso-
ziationsgesetze wollen eine dem mechanischen Ge-
schehen analoge Attraktionsformel bieten, stellen aber
nur eine vage Formulierung ohne Notwendigkeit dar.
W^ohl denken wir auch das seelische Leben als
einen Kosmos, das psychisch Seiende zeigt in
seinen Verflechtungen, dem Zu- und Abnehmen,
den charakterologischen Bestimmtheiten Ordnung
und Gleichförmigkeiten, deren Begründung in Ge-
setzen wir voraussetzen, aber nicht in bestimmten
Regeln der Anschauungsverknüpfung aussprechen
können.
Dies ist auch für die neuerdings so urgierten
historischen Gesetze eigentümlich; der Soziologe
kann keine Gesetze suchen, solange er keine Gleich-
förmigkeiten findet, die anders als statistische Regel-
mäßigkeiten sind.
— 37 —
Raum und Zeit.
Daß Raum und Zeit anschaulich wahrgenommen
werden, hat Kant in seiner Inaugural-Dissertation
vom Jahre 1770 begründet.
Die kategoriale VergegenständHchung der
räumh'chen und zeitlichen Anschauungen wollte Kant
nicht als berechtigt anerkennen. Das ist um so
befremdlicher, als er sich ihrer doch nicht entschlagen
konnte — denn ohne Zweifel ist der Raum und
die Zeit keine einzelne Anschauung und keine
Summe von Anschauungen*) — und als er anderer-
seits den raumzeitlichen Gegenstandsbegriff, die
Kategorie der Allheit, in der Kategorientafel selbst
anführte und mehrfach exponierte.
Raum und Zeit existieren. Sie haben eine not-
wendige Beziehung auf allgemeine Erfahrung. Trotz
der anschaulichen Verschiedenheit eignet ihnen
beiden dieselbe Art des Seins, weil ihnen als Regeln
notwendiger Anschauungsverknüpfungen dieselbe
kategoriale Synthese zugrunde liegt, die Beziehung
der Raum- und Zeitanschauungen auf ein Ganzes^
das sie als seine Teile möglich macht.
*) Die klare GegenübersteUunjr der Zeitanschauung und der
Zeit als Gegenstand hätte vielem Kopfschütteln über die trans-
zendentale Aesthetik vorgebeugt. Der bekannte Einwand, daß der
Wechsel der Vorstellungen die Existenz der Zeit involviere, kommt
so zu seinem Rechte, wie die kanUsche Lehre, daß die Zeit Er-
scheinung ist, d. h. anschaulich wahrgenommen wird; die Zeit
wird in der Zeit wahrgenommen, wie der Raum im Räume.
Alle Raum- und Zeitteile, die wahrgenommen
werden, sind extensive Größen,*) der Raum selbst
aber und die Zeit sind keine extensive Größen,
auch keine Kollektiva extensiver Größen, sondern
sie sind die Einheiten, die ihre Teile bedingen wie
das Ding seine Bestimmungen, das Naturgesetz
seine besonderen Fälle.
Die Wahrnehmungen von Raum und Zeit sind
formal gegenüber dem >Materialen« der Sinnes-
empfindungen; insoweit können sie als reine An-
schauungen bezeichnet werden, a priorisch ist an
Raum und Zeit nur die kategoriale Intellektuierung,
die über die wirkliche Erfahrung auf alle mögliche
Erfahrung hinausgeht. Kant hat in der Apriorität
der Zeit- und Raumanschauung (!) eine Beweiskraft
für die Gewißheit der Arithmetik (!) und der Geo-
metrie gefunden, deren sie nicht fähig ist, und nur
die Vieldeutigkeit seiner diesbezüglichen Argumen-
tationen, die dann und wann an Psychologismus
streifen, kann darüber hinwegtäuschen.
Die Kantsche Argumentation für die Apriorität
der Lehrsätze der euklidischen Geometrie ist unhalt-
bar, wenn diese nicht schlechthin demonstrativ sondern
die Wissenschaft vom existierenden Raum sein will,
also auf synthetische Urteile ausgeht. Ob der alleine
Raum wirklich homaloid ist, d. h. ob die Erfahrung
andauernd und durchgängig seine Dreidimensio""-
nalität, die wir auf Grund unserer Raumerfahrungen
axiomatisch behaupten, bestätigen wird, wissen wir
nicht. Ob die übrigen Axiome für alle mögliche
Erfahrung gelten, wissen wir nicht.
Der Schluß von der wirklichen Erfahrung,
deren For mulierung die euklidischen Axiome sein
*) Kritik d. r. V., B., S. 203. „Eine extensive Größe nenne
ich diejenige, in welcher die Vorstellung der Teile die Vor-
stellung des Ganzen möglich macht."
!
- 38 -
wollen, auf alle mögliche Erfahrung bleibt immer
wie bei allen Arten des Seins ein Postulat.
Daß wir uns einen mehr als drei-
dimensionalen Raum anschaulieh über-
haupt nicht vorstellen können, ist kein
Beweisgrund für die Unmöglichkeit anderer
Erfahrung, die Einbildungskraft ist über-
haupt nicht fähig zu Interpolationen der
Anschauung und nur reproduktiv.
Doch ist die Bezeichnung der euklidischen Geo-
metrie als eine Naturwissenschaft (Clifford) nur zu
begrüßen, und man kann die Metageometrie die
Wissenschaft von den nicht existierenden Räumen
nennen, wenn damit nicht unbedingt der Möglich-
keit vorgegriffen werden soll, daß einer ihrer
Raumbegriffe noch als Erkenntnis des existierenden
Raumes zu Ansehen kommen könnte.
Wenn die euklidische Geometrie die Wissen-
schaft vom existierenden Räume ist, so kommt
ihren Begriffen und Lehrsätzen doch keine Seins-
bedeutung zu. Geometrische Figuren, weil sie im
euklidischen Räume konstruierbar sind, als existie-
rend zu bezeichnen,*) ist terminologisch unan-
gemessen. Die Gebilde, von denen die Geometrie
handelt, sind Gattungsbegriffe, die in der An-
schauung niemals exakt darstellbar sind, ihr
wissenschaftlicher Wert beruht darin, daß sie die
Typen sind, denen sich charakteristische Gestal-
tungen des Raumes annähern, und als wirkliche
Gebilde sind sie kein selbständig Seiendes, sondern
anschauliche Bestimmungen im Räume, analog dem
Verhältnis der Eigenschaften zu den Dingen.
*) cf. Zindler, „Beiträge zur Theorie der mathematischen
Erkenntnis", S. 33 ff. Sitzgsber. d. Wien. Ak. 1889.
39
Die von der Geometrie vorausgesetzten und
die deduzierten Gesetzmäßigkeiten des Raumes
sind nicht als Naturgesetze abgetrennt vom Räume zu
denken, entsprechend der Scheidung der Naturgesetze
als besondere Seinsart von den Dingen. Die homogene
Natur des Raumes, d. h. der Raum als bestimmte
Regel der Anschauungsverknüpfung bedingt bereits
überall und immer die Gesetzmäßigkeiten, die der
Geometer aus allgemeinsten axiomatischen Merk-
malen folgern kann.
Die räumlichen Gleichförmigkeiten, die wir er-
fahren und auf die wir im kleinen bei unseren Aus-
messungen wie bei unseren geodätischen und astro-
nomischen Berechnungen vertrauen, sind realiter
nicht dadurch bedingt, daß der Geometer sie aus
Axiomen beweist, sondern einzig durch die homogene
Natur des Raumes.
Schopenhauers »Seinsgrund«,*) obschon un-
genügend durchgeführt, weist darauf hin, daß die
Gesetzmäßigkeit der räumlichen Bestimmungen
weder durch das principium rationis sufficientis
cognoscendi noch fiendi begründet wird ; nur indem
der Raum anerkannt wird als Seinsgrund, werden
sie erklärt.
In demselben Sinne wie der Raum sind Seins-
grund aber auch die anderen Arten des Seins.
Dieser Begriff liegt bereits in der aristotelischen
oOcjLa, die der Grund ihrer Bestimmungen ist.
Die Definition des Seins als Regel notwendiger
Anschauungsverknüpfung ist rein logisch, die Defini-
tion des Seins als Seinsgrund ist metaphysisch und
in gewissem Sinne psychologisch, die im Sein gedachte
Notwendigkeit wird hier angesprochen alsErklärungs-
*) cf. Schopenhauer, Der Satz vom zureich. Grunde § 15, § 35 ff.
— 40 —
grund, aus dem die Faktizität der konstanten Anschau-
ungsverknüpfungen begreiflich wird. Ohne die Not-
wendigkeit wäre die Faktizität nicht verständHch,
ohne diese Funktion der Notwendigkeit würden
wir sie zu der Faktizität nicht hinzudenken.
Der in der modernen Erkenntnistheorie immer
stärker sich erhebende Gegensatz zwischen Plato-
nismus und Fositivismus nimmt hier den Ausgang.
Der Positivismus verzichtet auf das Verstehen,
daher braucht er keine Erklärungsgründe und die
Notwendigkeit bedeutet ihm nichts, der Piatonismus
sieht im Sein die a^iiV) und formuliert sie in der
Notwendigkeit, ihm gilt es, den Weltlauf zu
verstehen und ihn nicht bloß zu be-
rechnen.**)
Wen das Bedürfnis, die Diskontinuität des
Gegebenen zu verstehen, das sich immer wieder
sinnvoll anknüpft, und die Regelmäßigkeit der Er-
fahrung, auf die wir zuversichtlich bauen, nicht zur
Anerkennung notwendiger Regeln der Anschau-
ungsverknüpfungen führt, dem kann sie durch Be-
griffe nicht nahegebracht werden.
Die allgemeinsten Merkmale, für die der Raum
Seinsgrund ist, legt die Geometrie axiomatisch zu
Grunde und nützt sie als Erkenntnisgründe für jene
Fülle von Erkenntnissen, die ihr Gebiet ausmachen.
Dieses eigenartige Verhältnis von Seinsgrund
und Erkenntnisgrund in der Geometrie empfahl
diese Wissenschaft schon früh zum Vorbild, und
nicht als Irrlicht hat die geometrische Methode seit
Piaton dem abendländischen Erkenntnisstreben vor-
geleuchtet, sie ist das Ideal, dem gerade die moderne
*) cf. Windel band, Geschichte der Philosophie, S. 336,
„Die Lehren vom Zufall", S. 18.
**) Mit diesen Worten schließt Lotzes Logik.
t
- 41 —
Naturwissenschaft sich merklich angenähert hat.*)
Ihr Weg und Ziel ist die begriffliche Bearbeitung
des Seienden »more geometrico*, um Erkenntnis-
gründe zu erallgemeinern, durch die alles, was in
der Anschauung ontologisch bedingt und erfahrbar
ist, logisch bedingt und begrifflich antizipierbar wird.
Daß nichts in seiner anschaulichen Individualität
begrifflich abgeleitet werden kann, ist kein Einwand,
auch der Geometer kann niemals die anschau-
liche Individualität der Gestaltqualitäten
berechnen.
Der Gedanke, die Farben und Töne z. B. als
mehrdimensionale Continua darzustellen und mole-
kularen Vorgängen zuzuordnen, so daß eine gewisse
apriorische Farben- und Tonwissenschaft ermöglicht
würde, erscheint nicht undurchführbar. Damit würde,
nur mit ungeheuer größerem Aufwand, das erreicht,
was die Konstruktion des Geometers leistet.
Will man analog dem Verhältnis der Geometrie
zum Räume auch der Zeit eine eigentümliche Wissen-
schaft zuordnen, so kann es weder die Arithmetik
noch die Fluxionsrechnung im besonderen sein,
denn das Zählen steht zur Zeit in keiner engeren
Beziehung wie zum Raum. Daß Zählen selbst ein
zeitlicher Vorgang ist, sichert ihm angesichts der
Zeitlichkeit auch der andern Funktionen des Denkens
keine Sonderstellung.
»Die Zeit ist der allgemeine Ausdruck der-
jenigen Gesetzlichkeit, deren Problem die Bewegung
*) cf. Mach, „Analyse der Empfindungen", S. 73 ff. Wenn
Mach die kausale Abhängigkeit als nicht wesensverschieden von
der Abhängigkeit der Seiten und Winkel im Dreieck erklärt, so
ist bei dieser Wiederaufnahme des spinozistischen Gedankens die
Übereinstimmung der kausalen und der geometrisch funktionalen
Abhängigkeit nur logisch und nicht ontologisch gemeint, aber
doch eingesehen.
— 42 -
ist,«*) »also erklärt unser Zeitbegriff die Möglichkeit
so vieler synthetischer Erkenntnis a priori, als die
allgemeine Bewegungslehre, die nicht wenig fruchtbar
ist, darlegt«.**)
Nicht das Anderssein oder das Anderswosein
macht den Unterschied von jetzt und vorher aus,
sondern das vermittels des primären Gedächtnisses***)
erlebte Spätersein eines Andersseins oder Anderswo-
seins d. i. der Begriff der Veränderung.
Auch wenn keine Veränderung wahrgenommen
wird, existiert die Zeit, wenn sie nur eine not-
wendige Beziehung auf mögliche Wahrnehmung
hat. >Eine leere Zeit ist ein widerspruchsvoller Be-
griff, da sie besagen würde: die Dauer einer Ver-
änderung, die keine Veränderung ist, und mit keiner
gleichzeitigen Veränderung zusammentrifft, an der sie
als Pause von zeitlicher Extension bestimmt werden
könnte. Die Zeit des Weltprozesses kann also
auch nicht von einer leeren Zeit begrenzt werden
. . wenn der Weltprozeß noch länger fortginge,
würde auch die Zeit an ihm noch länger fort-
dauern; wenn aber der Weltprozeß aufhört, ist
mit diesem Ende des Weltprozesses auch der Fluß
der Zeit begrenzt und abgeschnitten, ohne daß die
Zeit noch sonst anderer Begrenzung bedürfte. Das
gleiche gilt für den Anfang des Weltprozesses.« f)
Die Frage nach der Unendlichkeit von Raum
und Zeit hat über ihre sachliche Bedeutung hinaus
beschäftigt. Daß eine seiende Unendlichkeit eine
vollendete Unendlichkeit und somit widerspruchs-
voll sei, ist ein eigenartiges Vorurteil.
*) Cohen, „Prinzip, d. Inf.-Methode", S. 42.
**) Kritik d. r. V. B., S. 48.
***) cf. Jodl, „Psychol." III, § 21, desgl. Mach „A. d. E.^
S. 190 bis 203. Die Zeitempfindung.
t) E. V. Hart mann, Kategorienlehre, S. 104.
- 43 —
Wenn Zeit und Raum als unendlich groß exi-
stieren, so bedeutet dies eben, daß sie nie und
nirgends vollendet sind, sondern daß unendlich
viele Erfahrungen von stets neuem Nebeneinander
und Nacheinander möglich sind. Nun ist zwar »das
Axiom von der unbegrenzten Wiederholbarkeit ge-
wisser Denkoperationen ein wesentlich unerklär-
barer Bestandteil unserer Denkgesetze«,*) aber damit
ist nur bedingt, daß wir überzeugt sind, in der
Phantasie niemals Schranken des Raumes und der
Zeit innehalten zu müssen, sollten auch tatsächlich
Grenzen des Nacheinander und des Nebeneinander
bestehen.
Wenn nach Aristoteles über die Unendlichkeit
ebenso schwer ist, zu sagen, daß sie existiert, als
daß sie nicht existiert, so ist der Grund der, daß
wir nichts darüber wissen.
Kommt dem euklidischen Raumbegriff Seins-
bedeutung zu, so ist der Raum unendlich.
Aus dem Gesetz von der Erhaltung der
Energie wäre zu entnehmen, daß die Welt ein
perpetuum mobile ist, dann würde die Unendlich-
keit der Zeit gesichert sein. Aber auch bei der An-
nahme der mechanischen Wärmelehre könnten die
molekularen Schwingungen, auf die nach der
physikalischen Lehre der Wärmetod alles Geschehen
in der Welt reduzieren wird, zu einem Gleich-
gewichtszustande führen, so daß dem Maximum an
Entropie ein Nichts an kinetischer Energie gegen-
übersteht — also der zeitliche Prozeß ein Ende findet.
Das gäbe zu mißlichen ontologischen Bedenken
Anlaß, weil alles Seiende nur existiert, insoweit es
dem Jetzt angehört.
*) Z i n d 1 e r, „Beiträge . . .", S. 72.
— 44 —
Die Beziehung des Seins auf das Jetzt, die
Sonderung vom Gewesensein und Sein werden ist
für das menschliche Denken so einschneidend, daß
sie nicht unterdrückt werden kann. Der Begriff des
Seins wird vom Begriff der Tatsächüchkeit ver-
gewaltigt, wo die Teilung in Sein, Gewesensein
und Seinwerden aufgegeben wird. »Die Einbeziehung
des Vergangenen und Künftigen in den Bereich des
Realen« fordert Meinong. >Man überwindet damit . .
das unberechtigte Eindringen eines völlig sub-
jektiven Momentes in unseren Existenzgedanken,
das in dem Umstand hervortritt, daß jede Existenz
als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig deter-
miniert sich darstellt.«*)
Diese Gewaltsamkeit ist um so weniijer not-
wendig, als die Ansicht, gegen die sie sich kehrt,
daß von der Zeit selbst immer nur das Jetzt
existiere,**) unbegründet ist.
Zwar existiert alles Seiende, auch die Zeit,
nur im Jetzt, das Jetzt selbst aber ist kein für
sich Seiendes, sondern ein Teil der seienden Zeit-
totalität.
*) Meinonp:, „Über Gegenstände höherer Ordnung".
Ztschr. f. Psychol. Bd. XXI., S. 2(>0.
**) cf. Schumann, „Zur Psychologie der Zeit-
anschauung". Ztschr. f. I\sychol. Kd. XVII, S. 127. „Da die Ver-
gangenheit nicht mehr, die Zukunft noch nicht ist, so wäre die
Zeit ein Wirkliches, das aus zwei Hälften besteht, die beide
nicht wirklich sind."
Das psychische Sein.
Die Seinsgebilde Realität, Naturgesetze, Raum
und Zeit, durch kategoriale Synthese aus dem
Gegebenen vergegenständlicht, sind in der Erfahrung
derartig gegründet, daß sie aller begrifflicher Be-
weise spotten.
Der Versuch als einziges Sein nur das Ge-
gebene anzuerkennen, mag der Ausgangspunkt
erkenntnis-theoretischer Kritik sein, wenn die Un-
zulänglichkeit des Weltbegriffes konstruktive Geister
zu neuem Aufbau drängt. Als definitive »Welt-
anschauung« bleibt die Beschränkung auf das
Phänomenale, die eigenartigste aller intellektuellen
Per Versionen.
Daß aber eine ganze Wissenschaft in der Mehr-
zahl ihrer Vertreter einem Teil des Gegebenen die
Vergegenständlichung zu einer besonderen Seinsart
versagt, die doch an konstitutiver Bedeutung der
Realität gleichwertig ist, und deren begriffhche
Konstruktion in die fernsten Vergangenheiten des
Denkens zurückweist, ist eine Seltsamkeit, die viel-
leicht Mitursache ist an dem unverhältnismäßigen
Zurückbleiben dieser Wissenschaft: der Psychologie.
Dem Phänomenalismus in der Psychologie hat
Kant den Grund gelegt, indem er in der Kritik
d. r. V. für das Psychische keine gegenständliche
Kategorie erübrigte (obschon er gerne von einem
Gegenstand des inneren Sinnes spricht), und die
— 46 —
moderne Psychologie hat ihn extrem ausgebaut,
insoweit sie in der Stelhmgnahme gegen das Un-
bewußte eine über das pereipi hinausgehende Be-
ziehung des Psychischen auf die Erfahrung leugnet.
Kant hat über dem Interesse, die Paralogis-
men der rationalen Seelenlehre aufzudecken, die
empirische Psychologie in seiner transzendentalen
Logik vernachlässigt. Und doch gilt es nicht lange
zu suchen nach dem kategorialen Gegenstands-
begriff des Psychischen — trotz allem Phäno-
menalismus in der Psychologie hat das Denken den
ontologischen Ichbegriff nie verleugnen können.
Das Ich ist die konstitutive Kategorie, durch
die Gegebenes zum psychischen Sein vergegen-
ständlicht wird. In der notwendigen Beziehung auf
die Erfahrung, also in der Wahrnehmbarkeit, nicht
im Wahrgenommenwerden, besteht sein ontologischer
Gattungscharakter, in der besonderen Art dieser
im Ichbegriffe gedachten Beziehung auf das Be-
wußtsein seine spezifische Differenz.
Die vielgeübte Konstituierung des Psychischen,
gemäß empirischer klassifikatorischer Aufzählung,
etwa als Wollen, Fühlen und Vorstellen, ist onto-
logisch ganz nichtssagend.
Die A^on Münsterberg eingeführte Bestimmung
des Psychischen als dasjenige, das nur von Einem
wahrgenommen wird,*) gibt zwar ein charakteri-
stisches Merkmal, ist aber ontologisch nicht ver-
wendbar.
Bewußtseinsinhalte, die wir psychisch nennen,
werden kategorial als Akte (Äußerungen) eines
Ich aufgefaßt. Das Ich ist eine Regel seiner Akte
wie das Ding seiner Eigenschaften, das Natur-
gesetz seiner besonderen Fälle, Raum und Zeit
ihrer Teile.
I
I
*) cf. M ü n s t e r b e r g, Grundzüge der Psychologie, I, S. 202.
- 47 —
Wenn die Kategorie der Ichheit mit der Kate-
gorie der Inhärenz konfundiert wird, so muß es
zum Schaden für die Psychologie ausschlagen. Die
logische Exposition beider führt zu ganz ver-
schiedenen Ergebnissen. Im Ichbegriffe als Regel der
Anschauungsverknüpfung wird die Einheit eines rela-
tiv Beharrlichen — - beharrhch insoweit das Gepräge
der psychischen Wahrnehmungsmöglichkeiten sich
nur langsam ändert — gedacht, über dessen Gesetz-
mäßigkeit in der Aufspeicherung, im Schwinden
und hl der durchgängigen Verflechtung uns noch
alle genauen Kenntnisse fehlen, außer der einzigen,
daß sie toto coelo verschieden ist von der Gesetz-
mäßigkeit der in Wechselwirkung stehenden mate-
riellen Dinge.
Während für die übrigen Seinsarten das wirk-
liche Wahrgenommenwerden ganz irrelevant ist —
so denken wir die realen Dinge auch in ihrem
Sosein und ihren Veränderungen, unabhängig von
dem tatsächlichen ins Bewußtseintreten, bereichert
das Ich sich an dem Gegebenen und lebt sich in
seinen bewußten Akten aus.
Ein jedes psychisch Seiende wird in seinem
Sosein verändert durch die Betonung, die seine
Bestimmungen allein schon durch ihr Wahrgenommen-
werden erhalten, und die ihnen über der Schwelle
des Bewußtseins, wie wir annehmen, auch eine
größere Affinität zur assoziativen Vergesellschaftung
verleiht; weiterhin reagiert das Ich auf die im
Bewußtsein gegebenen Sinnesanschauungen, die
nicht aus seinem Eigenleben stammen, assimiliert
sich diesen und eignet sie sich als reproduzibel an.
Diese besondere Beziehung des Ich zum Be-
wußtsein darf nicht gedeutet werden, als ob das
Ich in den Bewußtseinsäußerungen sich erschöpfte,
die Fülle des seeHschen Lebens geht nicht mehr
— 48 -
wie die Unendlichkeit des Weltalls in die Wahr-
nehmungen ein. Der Mensch weiß wenig von seiner
Seele, über die enge Schwelle des Bewußtseins steigen
nur rhapsodisch und kärglich sein Hassen und
Lieben, sein Glauben und Wollen und der Reichtum
seiner Vorstellungen.
Was freilich das psychische Sein als *Unbe-
wußtes« ist, läßt sich anschauhch nicht vorstellen,
so wenig sich anschaulich vorstellen läßt, was ein
Reales, was Raum und Zeit ist, wenn sie nicht
wahrgenommen werden.
Während die Außenwelt mit den Sinnesorganen
erfaßt wird, gibt es keinen inneren Sinn«, der sich
selbsttätig auf das Ich richtet. Die Gesetzmäßigkeit,
durch die das Ich zur Wahrnehmung kommt^ be-
greifen wir in den Assoziationsgesetzen, gemäß denen
allen Bewußtseinsinhalten, den ichlichen sowie den
Sinnesanschauungen, eine unmittelbare oder mittel-
bare Affinität zukommt zu Akten, die ihnen deshalb
im Bewußtsein folgen. Welche Rolle dabei der
Wille spielt, ob er der mechanischen Kraft analog,
im psychischen Leben das zur Veränderung Drän-
gende, Organisierende und Lebendige ist,*^ dieser
Frage dürfen unsere Hypothesen mit demselben
Rechte näher treten, mit dem der Naturforscher die
flimmernden Sterne sich denkt als ein System
dynamisch verbundener Massen, obschon er niemals
die Wucht, mit der sie ihre Bahnen verfolgen, wird
erfahren können.
Vorderhand ist freilich sogar unser Vermuten
über den psychischen Kosmos nur Stückwerk. In
den Assoziationsgesetzen begreifen wir vage die
Gleichförmigkeiten der Verkettungen bewußter Akte,
in den charakterologischen Allgemeinbegriffen stabile
Reaktionsweisen auf gleichartige Erlebnisse, von
den Verflechtungen und Fluktuationen der psychi-
~ 49
sehen Substanz und deren physiologischer Ab-
hängigkeit wissen wir so gut wie nichts.
Daß alle Äußerungen der Iche notwendig be-
stimmt sind, setzen wir angesichts der psychischen
Beharrungen und der Gleichförmigkeiten in der
Assoziation und Reaktion voraus, und nur unter
dieser Voraussetzung, Regeln notwendiger An-
schauungsverknüpfungen zu sein, dürfen wir ihnen
Sein zuurteilen. Jedes Ich ist ein mehr oder minder
eigenartiges Prinzip. Seine spontanen und reaktiven
Äußerungen erfolgen aus seiner Natur mit der-
selben Notwendigkeit, mit der die Summe der Winkel
im Dreieck zwei Rechten gleich ist.
Daß trotz unserer Unkenntnis über die Art der
psychischen Gesetzmäßigkeiten wir die Grenzscheide
ziehen können um das Gebiet des Psychischen, be-
ruht vorzüglich darin, daß es weder durch Sinne
noch allgemein wahrnehmbar ist.
Die Ursache der nur individuellen Wahrnehm-
barkeit der Iche beruht darin, daß jedes ein be-
stimmtes Gehirn als physiologische Basis benötigt.
Die Bewußtseinseinheit, in der die Akte eines Ich
zur Wahrnehmung kommen, teilt es mit den Be-
wußtseinsinhalten, in denen die übrigen Seinsarten
wahrgenommen werden und die an demselben Ge-
hirn ihre physiologische Basis besitzen. Dieses steht
sowohl mit der räumlich-zeitlichen Welt, deren es
einen Teil darstellt, als auch mit dem Ich, dessen
materielles Substrat es ist, aber nicht mit den
anderen Ichen in gesetzmäßigen Beziehungen. So
treten in einem menschlichen Bewußtsein neben den
Wahrnehmungen, die durch die leiblichen Sinnes-
organe bedingt sind,*) immer nur die Äußerungen
eines einzigen Iches auf.
*) Die Zeitwahrnehmungen können weder den sinnlichen
noch den ichlichen Anschauungen koordiniert werden, sondern
Pichler, Arten des Seins. 4
— 50 -
Es ist klar, daß dieses gegenständliche Ich nicht
der Außenwelt erfahrend gegenübersteht, sondern
selbst nur ein erfahrenes ist.
Die Ansicht, daß zwischen Realität und psychi-
schem Sein eine Idealkonkurrenz bestehe, derart,
daß es möglich wäre, Anschauungen beliebig auf-
zufassen als zugehörig zu den Dingen oder zum
Ich, so daß etwa je nach dem Standpunkt die Sinnes-
empfindungen auch als psychisch können angesehen
werden, hat zwar einen ungemein breiten, ja die
Psychologie zum Teil beherrschenden Einfluß, ist
aber widersinnig; es wäre denn, daß man die Ein-
führung des Fichteschen absoluten Iches, das auch
das Nicht-Ich setzt, in die empirische Psychologie
verantworten will.*) Ohne eine solche metaphysische
Zutat wird die Begründung des methodologischen
psycho-physischen Parallelismus**) hinfällicr.
Wenn man jedoch anderseits voraussetzt,
daß alle psychischen Äußerungen kausaleindeutig
bestimmten molekularen Gehirnvorgängen zugeord"^
net werden können, so leugnet man damit das
psychische als besondere Art des Seins. Nur wenn
die Iche eine oOata sind im aristotelischen Sinne,
d. h. wenn ihre Bestimmungen durch kein anderes
Seiendes noch gesetzt sind (ob sie zwar durch
anderes Seiendes können mitbedingt werden), nur
dann sind sie selbständige Regeln notwendiger
Anschau ungsverknüpfungen, da ja andernfalls
sind, als durch das primäre Gedächtnis, das eine besondere Be-
wußtseinsfunktion ist, bedinö^t, sui ^eneris.
*) Viel verwirrend wirkt vor allem hier der Mangel an
auskömmlicher Terminologie; es wäre zu wünschen, daß die
gegenständliche Psychologie als „Charakterologie" von der Psycho-
logie als Phänomenologie strengstens getrennt wird, und daß für
das gegenständliche Ich in Anbetracht der vielen homonymen
Ichbegriffe wieder „Seele" rehabilitiert wird.
**) cf. Wundt, Grundriß der Psychologie 5, S. 389 ff.
— 51 -
alles ihnen zugehörige Anschauliche bereits herbei-
geführt wäre durch molekulare Gehirnvorgänge.
Wenn es kein psychisches Sein gibt, kann man
die Iche nur etwa mit Schuppes Terminus als
»Zeitdinge«*) bezeichnen, sie sind dann wie Wind
und Wetter Zusammenfassungen für eine Reihe
inhaltlich verwandter zeiterfüllender Erscheinungen,
deren tatsächliches Eintreten notwendig ist, nicht
gemäß der zeitdinglichen Einheit, in die wir sie
reflexiv zusammenfassen, sondern gemäß den
gegenständlichen Regeln (hier also Gehirnmolekülen),
die sie als ihre Bestimmungen bedingen. Muß also
die Frage, ob es eine psychische Seinsart gibt,
dahingestellt bleiben, bis nachgewiesen wird, daß
die ichlichen Bestimmungen so wenig durch die
gehirnmolekularen Veränderungen allein bedingt
sind, wie die realen Dinge durch die Naturgesetze ?
Mit so wenig begründeten Aussichten auf
Möglichkeiten ließe sich eine jede Begriffsbildung
im Keime ersticken. Das Entscheidende für die
Trennung des psychischen Seins von der Realität
und den übrigen Seinsarten überhaupt ist, daß
seine spezifische Eigenart mit ihnen nicht vereinbar ist.
Für die übrigen Seinsarten ist zwar die not-
wendige Beziehung auf die mögliche Erfahrung
charakteristisch, die wirkliche Erfahrung jedoch irre-
levant. Das Psychische können wir uns aber nach den
phänomenalen Befunden nur als in seinem Sosein
abhängig vom tatsächlichenBewußtseinsleben denken.
Der Einwand, daß auch auf die realen Dinge ihr wirk-
liches Wahrgenommenwerden nicht ganz unwirksam
bleibt, insoferne ja durch die beteiligten gehirnmole-
kularen Vorgänge angesichts der durchgängigen
Wechselwirkung eine zwar verschwindende aber doch
*) Schuppe, Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik,
S. 123 ff.
o
- 52
positive Verschiebung aller materiellen Gruppierung
in der Welt eintritt, ist nicht stichhältig. Denn die
mechanischen Gehirnprozesse müssen selbst durch-
wegs mechanisch verursacht sein*) und werden durch
ihre etwaigen Begleiterscheinungen im Bewußtsein
nicht berührt.
Nun kennt zwar die phänomenologische Psycho-
logie eine Reihe von Fällen, in denen gewisse
Sinneserfahrungen nur eintreten, falls ihnen
bestimmte andere vorausgegangen sind, (so wenn
die Sinne mit ihren spezifischen Energien auf
nicht normale Reize zu reagieren, nachdem sie
schon normal funktioniert hatten) aber diese Er-
scheinungen sind unvergleichlich mit jener tief-
greifenden inhaltlichen Umgestaltung des seelischen
Lebens, die jedes einzelne Erlebnis mit sich führen
kann.
Das letzte Wort über das psychische Sein ist
solange nicht gesprochen, als die psychologische
Kausalität noch ungeklärt ist. Jedenfalls ist die
Behauptung der gänzlichen Bestimmtheit des
Psychischen durch Gehirnvorgänge einstweilen aus
der Luft gegriffen und für jeden, der sich in das
seelische Leben versenkt hat, unverständlich. Auch
wenn das Ich in der strengsten Abhängigkeit von
physiologischen Prozessen steht, müssen doch seine
anschaulichen Bestimmungen durch diese allein noch
nicht gesetzt sein.
Durch die Frage, ob das Ich eine ouaca ist,
wird das kantische Problem des intelligibeln
Charakters aus der Metaphysik in das fruchtbarere
Erdreich der Erfahrung verpflanzt.
♦) Eine Behauptung? der Abhängigkeit der molekularen
Veränderungen vom Bewußtseinsleben würde sich wenig ver-
tragen mit der These, daß alles psychische Bewußtseinsleben
von Gehirnprozessen abhängig sein soll.
1|
Die Arten des Seins und die Erkenntnis.
Daß mit den dargestellten Arten des Seins der
ontologische Kreis beschlossen sei, läßt sich bei der
Unableitbarkeit des Besonderen nicht erhärten.
Kant gibt zwar in den »Analogien der Erfahrung«
die Anregung, aus dem Aggregat der Seinsarten
eine systematische Ontologie darzustellen, aber
auch eine solche wird nie mehr sein können, als
eine Bilanz des jeweiligen Weltbegriffes.
Da die Arten des Seins sich durch ihre kate-
gorialen Gegenstandsbegriffe unterscheiden, fragt
es sich, was die Ontologie von der Kategorien-
lehre zu erwarten hat. Zuvörderst heischt sie von
ihr die noch wenig entwickelte begriffliche Ex-
Position ihrer Kategorien, die gemäß der Über-
einstimmung von Aristoteles und Kant fruchtbar
nur aufgefaßt werden können als Produkte des
begriffsbildenden Denkens,*) in denen sich aber der
konstruktive Charakter des Denkens dadurch auf
einzigartige Weise ausprägt, daß sie die Regel-
mäßigkeiten der Anschauung, die unter sie sub-
sumierbar sind, als notwendig stempeln.
Über die Frage, was wir denken, wenn wir
Regelmäßigkeiten der Erfahrung als notwendig
♦) cf. Brentano, „Von der mannigfachen Bedeutung des
Seienden nach Aristoteles." Kap. V, § 4. Die Kategorien sind die
höchsten synonymen Allgemeinbegriffe, die höchsten Gattungen
des Seienden. — Lask, „Fichtes Idealismus und die Geschichte",
Kap. I, Kants analytische Logik des transzendentalen Begriffs.
- 54 -
behaupten, bleibt man sich gerne das Nachdenken
schuldig.
Daß der Begriff der Notwendigkeit, der das
einzige an den Kategorien anschaulich nicht Sche-
matisierbare darstellt, in der vorkantischen Philo-
sophie nicht begriffen wurde, ist verständlich. Aber
auch Kant hat ihn bei der ungenügenden Durch-
führung seiner Ontologie nicht zur Klärung ge-
bracht, vielmehr rückte die Handhabung der trans-
zendentalen Methode die ontologische Notwendig-
keit wieder in bedenkliche Nähe zur logischen.
Wie Aristoteles das Notwendige als das M
vom iizl zb nolb unterschied,*) so wird auch neuer-
dings des öfteren behauptet, daß der Begriff der
Notwendigkeit nicht mehr wie das M bedeuten
könne.**)
Somit wäre er überflüssig. Doch das aec***) findet
überhaupt erst in der Notwendigkeit seine Be-
gründung. Denn die Erfahrung zeigt nur Regel-
mäßigkeiten, die zum M sich verhalten wie das
Endliche zum Unendlichen, nur aus der zu ihnen
hinzugedachten Notwendigkeit wird es erschlossen.
Der durch die Notwendigkeit, die in den gegen-
ständlichen Kategorien gedacht wird, charakterisierte
Seinsgrund ist neben der im Erkenntnisgrund ge-
dachten logischen Notwendigkeit die einzige selb*st-
ständige Wurzel des Satzes vom Grunde. ""
*) cf. Aristoteles, Metaphysik XI, 8.
**) cf. Simmel, „Kant'', S. 30: „So scharf Kant den Satz:
A ist die Ursache von B, von dem unterscheidet: B folgt zeitlich
auf A, so weiß ich doch nicht, worin sich diese objektive Kausal-
folge von der Bestimmung unterschiede, daß in jedem überhaupt
je vorkommenden Fall B auf A zeitlich wahrnehmbar folgen wird.
***) Das Äel stehe hier nur a potiori als Abbreviatur für die
verschiedenartigen Regelmäßigkeiten der notwendigen An-
schauungsverknüpfungen.
55
Der Kategorienlehre liegt es ob, die ontologi-
sche Notwendigkeit als den einheitlichen Grund der
in den Seinsarten bestimmten Regeln der Anschau-
ungsverknüpfungen in seinem Verhältnis zu den
anschaulich schematisierbaren Bestimmungen der
Kategorien auszuführen.
Wenn die Ontologie von der Kategorienlehre
mehr wie die Dienste der Begriffsbestimmung fordert,
nämlich einen Leitfaden für die vollständige
Auffindung aller gegenständlichen Kategorien, so
wird sie sich mit Geduld wappnen müssen:
Kant hat die metaphysische Deduktion der
Kategorien nicht zu leisten vermocht, daher bleibt
die Aufzählung der Kategorien rhapsodisch, und
der Ableitung der Kategorien aus der Tafel der
Urteile muß eine Ableitung von Urteilen aus der
Tafel der Kategorien, die von der Ontologie ab-
hängig ist, zur Seite gestellt werden.
Dies tut die von Windelband eingeführte
Unterscheidung der reflexiven und der konstitutiven
(gegenständlichen) Kategorien, deren Trennung nach
ontologischen Gesichtspunkten unternommen ist.*)
Wie es auch die Entwicklung der Erkenntnis-
theorie halten mag mit der »Deduktion der reinen
Verstandesbegriffe«, ob sie die reflexiven Kategorien
als metaphysisch, die konstitutiven als nur trans-
zendental deduzibel definitiv zu trennen sich ent-
schließen wird, für die Ontologie ist ihre Unter-
scheidung noch in ganz anderem Sinne grundlegend.
Die konstitutiven Kategorien sind notwendige
— die reflexiven willkürliche Synthesen.
Die Gegenstände, die durch diese gedacht werden,
existieren nicht. Der Gattungsbegriff Sein schheßt
alles bloß Gedachte von sich aus, und das Unter-
*) cf. Windel band, „Vom System der Kategorien", S. 48.
Festschrift für S ig wart.
— 56 -
scheiden und Vergleichen, Zählen und Verbegriff-
liehen sind Denkoperationen, mit denen wir die An-
schauung zwar in objektiver Weise, aber nur im
und für das Denken bearbeiten, indem wir nicht
annehmen, daß, wenn wir etwa beliebige Gegen-
stände auszählen, diese Zusammenfassung auch, so-
fern sie nicht gedacht wird, gesetzt sei.*)
Hingegen in den konstitutiven Kategorien, die
den Seinsarten zugrunde liegen, wird Notwendigkeit
gedacht als eine Zusammengehörigkeit, für die das
wirkliche Gedachtwerden gleichgültig sein soll ; alle
konstitutiven Kategorien sind Voraussetzungen, in
denen das konstruktive Denken über die Erfahrung
und seinen eigenen psychologischen Charakter hin''-
ausgeht, dergestalt, daß für die behauptete Regel
notwendiger Anschauungsverknüpfungen die wirk-
liche Erfahrung immer das zureichende Kriterium
bleibt, und daß ihre konstanten Gleichförmigkeiten
in der Notwendigkeit die Begründung finden.
Obschon die Gleichheiten, die Verschiedenheiten,
die Anzahlen der Dinge usf. nicht existieren!
besitzen sie doch eine Analogie zum Existenzbegriffi
durch die sie ihm oft gefährlich geworden sind.*" Die
Objektivität dieser »Gegenstände höherer Ordnung.,
als welche sie Meinong in der Erkentnistheorle!
heimisch gemacht hat, drücken wir dadurch aus
daß wir ihnen »Bestand« zuurteilen.**)
Der begriffhche Wert dessen, was unter Bestand
zu denken sei, ist, da er in keiner eindeutio^en Be-
*) Daraus folgt nicht, daß die mathematisch formulierten
Naturgesetze nur reflexiv sein können, oder, wenn dies nicht ein-
geräumt wird, daß die Zahlen konstitutiv sind. Die mathematische
Formulierung ist nur der begriffliche Ausdruck für die Notwendi«-.
keit bestimmter anschaulicher Verknüpfungen. '^
**) cf. Meinong, „Über Gegenstände höherer Ordnung«
Ztschr. f. Psych. XXI. ^
... 57 —
Ziehung zur Anschauung steht, nicht in einer
Formel auszusprechen. Daß das Seiende durch die
Begriffe des reflexiven Denkens so bearbeitet werden
kann, daß nicht nur gemäß der jeweils gegebenen
Anschauung diese und jene Vergleichungen voll-
ziehbar sind, sondern unser Denken die Gescheh-
nisse in allen Weiten erraten und das Zukünftige
mit größter Zuverlässigkeit antizipieren kann, be-
ruht in der Gesetzmäßigkeit der Erfahrung, wie sie
sich in den Arten des Seins ausspricht.*)
Sie macht es möglich, Erkenntnisgründe zu
finden, aus denen die Bestimmung jedes Seienden,
die extensiven, protensiven und intensiven, auf den
verschlungensten Umwegen erschlossen werden
können, wenn nur die Kenntnis der Gesetzmäßig-
keiten und einzelner Tatsachen eine genügende
Handhabe bietet.**)
Erkenntnistheorie ist kritischer Spinozismus.
Dies aber nur, wenn unter Erkenntnis
allein die Verbegrifflichung des Seienden verstanden
wird. Im Existierenden das einzig Wirkliche zu
sehen, dem unser Denken gegenübersteht, mit dieser
Einseitigkeit dürfte die Philosophie endgültig ge-
brochen haben.
Die Wert Wirklichkeit grenzt durch ihren
Gegensatz zum bloßen Gedachtsein an den Existenz-
begriff. Ihre begriffliche Explizierung ist erst ein-
geleitet, sie ist das spezifisch moderne Problem.
Das Herausarbeiten der selbständigen Bedeutung
der Wertwirkhchkeit gegenüber der Natur, »dem
Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung«, ist
nicht nur ein Anliegen der Erkenntnistheorie. Denn
*) Die Arithmetik beruht als analytische Wissenschaft zwar
auf Vereinbarung, aber ihrer Anwendung auf die Erfahrung liegen
weitgehende Annahmen über deren Gesetzmäßigkeit zugrunde.
*) cf. Lotze, Logik, § 34;8 und 349.
**)
- 58 -
ein Naturalismus, der die Werte meistert, wie ein
Idealismus, der meint, vor der Erfahrung die Augen
schließen zu müssen, zersetzen beide die Substanz
des Lebens.
Die abendländische Begriffsentwicklung hat
ihr überwiegend naturalistisches Gepräge dadurch
wettgemacht, daß sie das ontolgische Problem in
der kantischen Erkenntnistheorie zu einem Abschluß
brachte. Mit diesem Abschluß hat Kant zugleich durch
die systematische Begründung der Wertwirklichkeit
die »Weltanschaung« mit neuem Inhalt erfüllt.
Die logische Struktur der objektiven Werte
(die Kant nur in der Ethik und Ästhetik durch-
geführt hat) ist nicht ohne Analogie zu der Ob-
jektivität des Seienden. Doch liegt ihr Gattungs-
mäßiges nicht in einer notwendigen Beziehung zur
Anschauung, sondern in einer Beziehung auf die
Anerkennung, die, unabhängig vom hie et nunc
anerkannt werden, in einem mehr oder minder
akzentuierten, hypothetischen oder kategorischen,,
aber stets mehr als individuellen Sollen sich aus-
spricht.
Der Grund, in dem wir das Sollen verankert
denken, ist ein sehr vielgestaltiger. Wenn es gilt
Urteile zu fällen über Wertwirklichkeiten, ist das
Kriterium an erster Stelle ein allgemeines lebendiges
Wissen von ihnen. Aber kann die Beurteilung eines
Wertes, der in dieser konkreten Überzeugung
keinen festen oder gar keinen Halt findet, sich
jemals mit dem Pathos, mehr als individuelle Über-
zeugung zu sein, auf ein Kriterium berufen, wie
das »e pur si muove« auf die mögliche Erfahrung?
So viel ist klar, daß in der Erkenntnistheorie
die Erkenntnis des Seienden und die Erkenntnis
des Wertwirklichen nicht ohne weiteres koordiniert
werden dürfen. Nun ist aber die Erkenntnis des
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Seienden selbst ein Wert: die Wahrheit gilt als der
gewisseste aller Werte.
Die Einreihung der Wahrheit unter die all-
gemeinen Werte ist berechtigt. Verfänglich wird
sie nur, wenn übersehen wird, daß die Objektivität
der Wahrheit als Wert und ihre erkenntnis-
kritische Objektivität nicht zusammenfallen.
Gleichwie die Rechtsnormen von der anderen
normativen Wirklichkeit sich abheben dadurch, daß
sie im Rechtszwang Garantien ihrer Erfüllung be-
sitzen, so hat die Wahrheit in der Anschauung ein
Kriterium, ganz unabhängig davon, daß die Er-
kenntnis des Seienden ein Wert ist.